Liebe Sky6483,
prinzipiell kann ich Deinen Mann irgendwie verstehen.
Als Hirntumorpatient kann man durch die Lage des Tumors (im "Persönlichkeitszentrum") und durch die Ausweglosigkeit des Krankheitsverlaufs wütend, aggressiv, ungerecht ... vor allem den Liebsten gegenüber werden bzw. sein.
Mir selbst ging es auch so, da war die Lage des Tumors Schuld, aber ich fühlte mich auch verdammt schuldig, wenn ich meinen Kindern, meinen Verwandten, den besten Freunden gegenüber die Kontrolle verlor.
Bei Menschen, mit denen ich umgehen musste, die mir aber weniger nahe standen, hatte ich mich unter Kontrolle.
Und das verwirrte mich und machte mir aber auch klar, dass es die Liebsten sind, bei denen ich glaubte, mich gehen lassen zu können, weil sie mich und ich sie besonders gut kenne.
Ich wurde wütend auf mich!
Ich bekam es mit der Angst zu tun, meinen Kindern womöglich wehzutun.
Ich entzog mich derartigen Gefahrensituationen, lief weg, heulte.
Es war für meine Kinder nicht leicht, das zu verstehen und zu verarbeiten, aber sie waren in dieser Zeit bereits älter als 14 Jahre.
Sie konnten das einordnen, verstehen vielleicht nicht so ganz.
Aber wir alle haben die Zeit gehabt, Gefühle füreinander zu entwickeln, "das Beste aus der Situation zu machen" und wir verstehen uns heute "blind", also wirklich sehr gut.
Nun hatte ich keinen Hirntumor, bei dem man mit einem tödlichen Verlauf rechnen muss, aber im Laufe von 25 Jahren wiederholt WHO-III-Meningeome, die operiert, z.T. nachbestrahlt wurden. Man lebt nicht einfach damit.
Dein Mann ist erwachsen.
Er lässt sich nicht helfen, von Dir nicht, von keinem Arzt. Das musst Du vielleicht zulassen, es ist seine Entscheidung, die er vermutlich schon seit längerem getroffen hat.
Er ist Dein Mann und Du kannst es vielleicht ertragen, wenn er Dir gegenüber aggressiv wird, Dich mit "unschönen Worten" beschimpft, sogar handgreiflich wird. Du schreibst, dass Du ihn doch liebst und das stimmt. Dir gelingt es, dieses absurde Verhalten Dir gegenüber auf den Tumor zu schieben.
Lässt Du es zu?
Sagst Du ihm, dass er sich im Ton vergriffen hat?
Machst Du ihm deutlich, wie Dir das wehtut, wenn er handgreiflich wird?
Sagst Du auch mal Stopp!
Oder sagst Du Dir innerlich, er kann doch nichts dafür, ich liebe ihn doch ...
Mit meinem Bespiel wollte ich Dir deutlich machen, dass man unkontrollierbare Aggressivität auch so in den Griff bekommen kann, dass man andere nicht psychisch oder gar körperlich verletzt. Das ist möglich und wenn es ihm nicht möglich ist, dann darfst Du ihm auch mal "die Meinung sagen".
Ich hätte das jetzt sicher nicht so hart geschrieben, wenn es nicht auch Kinder in Eurer Familie gäbe.
Sie sind besonders betroffen!
Sie kennen ihren Papa als lieben Papa, der mit ihnen spielt und lernt und rumtollt.
Sie akzeptieren jetzt, dass er krank ist und dass seine Krankheit sein Verhalten verändert hat.
Aber lange halten sie das nicht aus.
Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber könnte es sein, dass sie beginnen, sich vor seiner Wut zu fürchten, dass sie ihn, ihren einst so lieben Papa, fürchten, sich ihm unbewusst oder bewusst entziehen?
So wie er mit seiner Krankheit medizinisch umgeht, wird er damit rechnen, dass sein Leben zu Ende geht.
Wie werden die Kinder ihn dann in Erinnerung behalten?
Und Du?
Ich weiß nicht, wie jung Deine Kinder sind. Hast Du mit den Erziehern bzw. den Lehrern gesprochen? Hat sich das Verhalten der Kinder geändert? Sind ihre schulischen Leistungen schlechter geworden? Ziehen sie sich im Freundeskreis zurück oder geraten sie sogar in gefährliche Kreise, um die häusliche Situation für einige Stunden vergessen zu können?
Du musst Deine Kinder schützen.
Ja, Du hast deinem Mann Liebe und Treue geschworen.
Aber Ihr habt Kinder.
Dein Mann hat in gesunden Zeiten ganz bestimmt alles getan, um den Kindern ein schönes, ein besseres Leben zu gestalten.
Er würde es immer noch wollen, wenn er könnte.
Wenn es Dir nicht gelingt, mit allen möglichen Hilfen (Ärzte, Psychologen für ihn, die Kinder und Dich, Lehrer, Erzieher, ...) eine Situation zu erzeugen, die für Eure Familie gut ist, dann solltest Du daran denken, Deinen Mann in eine Einrichtung zu geben, wo ihm professionelle Hilfe zuteil wird.
Ich könnte mir vorstellen, dass er Fremden gegenüber nicht so aggressiv wird, aber wenn es so ist, dann ist es geschultes Personal, das damit umzugehen weiß.
Ihr hättet die Möglichkeit, ihn zu besuchen und ob die Kinder mitkommen wollen, das können sie mit Dir entscheiden.
Das kann Ruhe in Eure Familie bringen und auch Deinen Mann könnte es in eine bessere Situation bringen.
Ich hoffe, Du nimmst mir diese harten Worte nicht übel, aber auch schwerkranke Menschen sind Menschen, die sich sozial verhalten können. Das darf man ihnen sagen. Und wenn sie es mit aller Hilfe von außen bewusst nicht wollen oder wegen des Tumors nicht mehr können, dann können sie zu einer Gefahr für ihre Liebsten werden, zu einer Gefahr, die psychisch sehr, sehr lange nachwirken kann.
Ich wünsche Dir sehr, dass Du eine Lösung für Eure Familie und für Deinen Mann findest, die Euch allen gut tut.
KaSy