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Thema: Astrozytom Grad II / Strahlen- und Chemotherapie

Astrozytom Grad II / Strahlen- und Chemotherapie
Onlyjoking
18.08.2019 16:23:10
Hallo,

bei mir wurde Anfang Juli 2019 ein Astrozytom Grad II (diffus, idh-mutiert) rechts temporal diagnostiziert. Mitte Juli wurden ca. 90 % des Tumors operativ entfernt. Die Tumorkonferenz hat entschieden, im Rahmen der Nachbehandlung den Resttumor zunächst 30 Werktage mittels Tomotherapie zu bestrahlen (insges. 60 Gray) und anschließend eine 6-monatige Chemotherapie mit Temozolomid (Temodal) nach dem 5/23-Schema durchzuführen (beides ambulant).

Die Ärzte sagten mir, dass diese Nachbehandlungen eigentlich nur für höhergradige Gliome vorgesehen sind. Daher meine Frage: Hat jemand mit ähnlicher / gleicher Diagnose die gleiche Therapie erhalten?

Ich befinde mich aktuell am Anfang der Bestrahlungsphase. Mir macht aber die Chemo sorgen. Welche Nebenwirkungen hattet ihr? Insbesondere interessiert mich, ob die Nebenwirkungen wie Übelkeit nur während der 5 Tage der Tabletteneinnahme auftreten oder auch während der 23-tägigen Tablettenpause? Hat jemand während der Chemo bereits eine Reha absolviert oder ist gar wieder arbeiten gegangen? Gab es bei euch eine Pause von ein paar Tagen oder Wochen zwischen Bestrahlung und Chemo?

Viele Grüße!
Onlyjoking
paolo
19.08.2019 03:22:05
Es tut mir leid, dass du diese besch***ene Diagnose erhalten hast, aber ich möchte dich trotzdem hier im Forum willkommen heissen.
Ich bin mir sicher, dass du hier eine feste Anlaufstelle für alle Fragen rund um die Erkrankung, die Therapien, die evtl. damit verbundenen Ängste und Sorgen, oder auch einfach für mehr oder weniger themenbezogenen Austausch finden wirst.


Ich kann anhand deiner Schilderung nur Vergleiche zu mir selbst ziehen (wenn du auf mein Profil klickst, siehst du Details zu meinem Krankheitsverlauf), und es stimmt, dass die Strahlenchemo nach
Stupp-Protokoll (6 Wochen RT, ≤ 60Gy + TMZ; adjuvant 6 Monate TMZ, 5/23d) in der Regel eigentlich erst bei höhergradigen Gliomen angewandt wird bzw. in der Vergangenheit so eingesetzt wurde.

Als ich nach meiner ersten OP (ebenfalls ein diffuses Astrozytom Grad 2) vor der Wahl stand, war die Meinung der Ärzte, dass es womöglich besser wäre, mit der radikaleren Nachbehandlung noch abzuwarten,
um (O-Ton:) "nicht gleich das ganze Pulver auf einmal zu verschiessen" und so noch eine Therapieoption für einen späteren Zeitpunkt in der Rückhand zu haben.
Zu der Zeit war es auch nicht unüblich, bei niedrigmalignen Gliomen zunächst nach dem "Wait and See" Prinzip zu verfahren, d.h. engmaschige MRT Kontrollen, und erst bei einem Progress bzw. Rezidiv erneut zu intervenieren.
Mittlerweile scheint der Trend bei Grad 2 Gliomen aber in Richtung einer frühen Behandlung mit Strahlen- und Chemotherapie zu gehen, da retrospektive Datenanalysen in einigen Fällen für einen längeren progressionsfreien Zeitraum sprechen.
In den letzten Jahren der Forschung hat sich auch im Verständnis der molekularbiologischen Tumoreigenschaften einiges getan, so dass man jetzt deutlich mehr prognostische Faktoren bestimmen kann, was ebenfalls bei der Wahl der Therapie berücksichtigt wird.

Kurzum: Wenn deine Ärzte der Meinung sind, dass dies für dich die beste Option ist, dann würde ich ihnen vertrauen. Sie haben in der Regel langjährige Erfahrung, schon viele Patienten mit der selben Diagnose betreut, und können ziemlich gut einschätzen, was im jeweiligen Fall ein geeignetes Vorgehen ist. Durch den Austausch in der Tumorkonferenz wird die Entscheidung auch aus Sicht mehrerer involvierter Teildisziplinen beurteilt.
Wenn man sich unsicher ist, kann man sich jederzeit auch eine Zweit- oder gar Drittmeinung einholen, aber manchmal ist die Sachlage so eindeutig, dass die Meinungen in die selbe Richtung gehen, und man durch das Einholen weiterer Meinungen evtl. nur unnötig Zeit verliert, welche es effektiv zu nutzen gilt.

Bei mir war es so, dass ich mich rückblickend vermutlich auch besser für eine frühe radikale Behandlung hätte entscheiden sollen.
Aber hinterher ist man immer schlauer, und man kann es im Einzelfall nie vorhersehen. Manche Patienten leben viele Jahre ohne Probleme, ohne nachbehandelt zu sein, andere erleiden relativ schnell ein Rezidiv.
Ich hatte nach der Erstdiagnose zwei Jahre Ruhe, und dann wurde daraus ein anaplastisches Astrozytom (Grad 3) mit stellenweisen Übergang in ein Glioblastom (Grad 4), so dass eine erneute OP und die Nachbehandlung mittels sechswöchiger Strahlenchemo und anschließender Chemotherapie notwendig wurde.

Die Bestrahlung habe ich ziemlich gut vertragen. In den ersten zwei Wochen habe ich fast keine Nebenwirkungen verspürt, und erst im weiteren Verlauf merkte ich, dass ich zunehmend matt und abgeschlagen wurde, und mir gewissermaßen die Energie ausging.
Nach ca. drei bis vier Wochen fielen mir dann die Haare an den Ein- und Austrittsstellen des Bestrahlungsfeldes aus, aber kurz nach Abschluss der Strahlentherapie fingen die Haare auch schon wieder an zu wachsen.
Erst etwas spärlich, aber nach wenigen Monaten wieder in nahezu voller urprünglicher Stärke.

Der Nutzer Fabi hier im Forum hat ein lesenswertes Strahlentagebuch geschrieben, in dem er seine Eindrücke und seine Begleiterscheinungen während der Therapie festhielt.
Du kannst den entsprechenden Beitrag finden,
indem du "Strahlentherapie Tagebuch" oben in das Suchfeld eingibst.

Nun zu deiner Frage bezügl. der anschliessenden Chemotherapie mit Temozolomid:
Zwischen der letzten Bestrahlungseinheit und dem Beginn der adjuvanten Chemotherapie liegt normalerweise eine drei- bis vierwöchige Erholungsphase.
Beim ersten Zyklus wird eine etwas geringere Dosis als bei den folgenden fünf Zyklen verabreicht, um zu schauen, wie der Patient das Mittel verträgt.
Das sind laut Richtlinie 150mg je Quadratmeter Körperoberfläche je Tag (1-5/23d).
Die genaue Dosis wird vorher aus deiner Größe und deinem Gewicht berechnet.
Wenn man keine gravierenden Nebenwirkungen oder allergische Reaktionen zeigt, dann bekommt man ab dem zweiten Zyklus 250mg je Quadratmeter Körperoberfläche je Einnahmetag.

(Fun Fact:
Wenn man Freude am Rechnen und Langeweile hat, dann kann man das auch selbst nachrechnen, um die Werte mit der verordneten Dosis zu vergleichen. Besonders bei eventuell größeren Gewichtsschwankungen im Verlauf der Therapie kann es hilfreich sein, den Arzt auf eine mögliche Dosisanpassung hinzuweisen. Für die Berechnung der Körperoberfläche gibt es mehrere anwendbare Formeln, aber die gängigste ist die
sogenannte "DuBois" Formel.)


Während der Therapie werden wöchentliche Blutkontrollen durchgeführt, so dass der Onkologe grünes Licht für den nächsten Zyklus geben kann, oder auch eine längere Pause anordnen kann, falls bestimmte Werte doch mal zu niedrig sein sollten.
Bei einer ausgewogenen Ernährung und ohne sonstige Erkrankungen sollte es da aber eigentlich kaum Probleme geben.

Nun zur Einnahme und den zu erwartenden Nebenwirkungen von Temozolomid:
Grundsätzlich können eine ganze Menge Nebenwirkungen auftreten, aber das kann im Einzelfall alles sehr unterschiedlich sein: alles kann, nix muss.
Die gängigsten Nebenwirkungen direkt nach der Einnahme sind Kopfschmerzen, Schwindel, verschwommenes Sehen und Übelkeit, wobei das alles auch sehr dezent sein kann, und nicht zwingend besonders ausgeprägt ist.
Man bekommt eigentlich auch ein Mittel gegen Übelkeit verordnet (meist ein Mittel aus der Gruppe der Setrone), welches man 30-60 Minuten vorher einnimmt, und dann fällt die unmittelbare Übelkeit schon mal weg.
Ungefähr 30 Minuten nach der Einnahme vom Temozolomid ist der Wirkstoff vom Körper resorbiert und ca. 60 Minuten nach der Einnahme wird der höchste Wirkstoffspiegel erreicht. Die Halbwertszeit von TMZ im Körper beträgt ca. 90 Minuten, so dass der überwiegende Teil des Wirkstoffs nach ca. 3 Stunden schon wieder abgebaut sein sollte.
Weitere Nebenwirkungen, die sich erst am Fogletag oder im späteren Verlauf der Einnahmewoche zeigen sind z.B. Obstipation, Hautprobleme, Wundheilungsstörungen, Magenschmerzen und Muskelschmerzen.
Aber auch hier gilt, dass es da individuell große Unterschiede geben kann.

Man sollte das Mittel immer auf nüchternen Magen und möglichst zur selben Uhrzeit einnehmen, so dass 24h zwischen den Einnahmen liegen.
Welche Uhrzeit das ist, ist jedem selbst überlassen.
Nimmt man es früh, ist man eh noch nüchtern von der Nachtruhe, und kann sich, wenn man möchte, auch direkt nochmal hinlegen.
Nimmt man es tagsüber, sollte man vorher am besten 3-4 Stunden nichts gegessen haben, damit es optimal aufgenommen wird, und man weniger Magen- und Verdauungsprobleme bekommt.
Trinken ist vor der Einnahme in Ordnung, aber Fruchtsäfte sind tabu.
Stilles, aromatisiertes Wasser oder Tee gehen da ganz gut.
Eine Stunde nach der Einnahme kann man dann wieder ganz normal essen, wobei man zu deftige oder stark gewürzte Speisen ebenfalls meiden sollte.
Manche Ärzte empfehlen die Einnahme direkt vor der nächtlichen Bettruhe, so dass man die direkten Nebenwirkungen verschläft.


Bei mir läuft so ein 28 tägiger Zyklus meist so ab (die Angaben sind nur bedingt übertragbar, da ich bereits fast 50 Zyklen absolviert habe; in den ersten 3 - 4 Zyklen hat man gefühlt weniger Probleme):

Tag 1 (erster Einnahmetag) - keine Probleme
Nach der Einnahme fühl ich mich etwas schummerig, und habe leichte Kopfschmerzen, wobei sich das bei mir immer auf die operierte Seite des Kopfes beschränkt, was sich aber nach zwei bis drei Stunden wieder legt.

Tag 2 - wenig Probleme
Ich merke schon früh, dass ich mich leicht abgeschlagen fühle, aber nach dem Frühstück ist alles wieder in Ordnung. Eine leichte Obstipation stellt sich ein. Nach der Einnahme habe ich die selben Begleiterscheinungen wie am Vortag, und es dauert etwas länger, bis ich mich wieder normal fühle.

Tag 3 - mäßige Probleme
Ich fühle mich etwas verkatert, mein Magen drückt und ich habe leichte Kopfschmerzen. Bei Bedarf nehme ich eine Schmerztablette (z.B. Metamizol/Novalgin). Ich beschränke mich auf leichte Kost und verspüre den ganzen Tag eine gewisse Abgeschlagenheit, vergleichbar mit einem leichten grippalen Infekt.

Tag 4 - mäßige Probleme
Mein Allgemeinbefinden ist fast identisch wie am Vortag, jedoch sind die Begleiterscheinungen etwas stärker ausgeprägt.
Der Kopf fühlt sich schwer an und es fällt mir schwer mich zu konzentrieren. Das drückende Gefühl im Magen hat sich in eine dezente und anhaltende Übelkeit mit leichten Magenschmerzen bei der Nahrungsaufnahme gewandelt.

Tag 5 (letzter Einnahmetag) - moderate Probleme
Ich komme nur schwer aus dem Bett und habe direkt nach dem Aufstehen bereits Kopfschmerzen, welche ich mit einer Schmerztablette unterdrücke. Ich verspüre ein leichtes Schwindelgefühl und leichte Muskelschmerzen, fast wie ein Ganzkörpermuskelkater.
Die Obstipation macht sich deutlich bemerkbar. Meine Haut fühlt sich stellenweise sehr trocken und rissig an. Besonders die Hände sind betroffen. Ich verspüre eine anhaltende Appetitlosigkeit, welche durch ein dezentes Drücken im Magen im Ensemble mit leichter Übelkeit komplementiert wird. Viel warmer Tee und leichte Kost lassen die Magenbeschwerden erträglich erscheinen. Ich muss häufig aufstoßen. Insgesamt fühle ich mich sehr matt und abgeschlagen. Meine Konzentrationsfähigkeit ist schnell erschöpft, und ich bin den ganzen Tag einfach nur müde.

Tag 6
Die Beschwerden ähneln dem Vortag, aber lassen zum Abend hin nach.

Tag 7 - 8
Die Beschwerden lassen deutlich nach.

Tag 9
Ich fühle mich halbwegs normal und kann auch wieder ausgiebig essen und uneingeschränkt meinem Tagesgeschehen nachgehen. Einzig die Hautprobleme sind noch vorhanden (bis ca. Tag 14/15). Kleine Wunden heilen nur sehr langsam ab, aber mit entsprechenden Salben und Cremes lässt sich das ganz gut in den Griff kriegen.

Ab Tag 10
Ich fühle mich wieder ganz normal.
Allgemeinbefinden, Leistungsfähigkeit, Konzentration, Vigilanz und Vigilität haben Normalwert erreicht.



Ob man während der Chemo bereits mit der Reha beginnen kann, ist mir nicht bekannt, aber ich bin mir sicher, dass die anderen Forenteilnehmer noch ein paar hilfreiche Hinweise für dich haben werden.
Manche Betroffene gehen während der Chemotherapie sogar ganz normal arbeiten.
Die Verläufe und die Verträglichkeit der Therapien sind mitunter sehr unterschiedlich. Neben dem Allgemeinzustand vor Therapiebeginn spielen auch das Alter des Patienten, und natürlich auch die Psyche eine wichtige Rolle.
Eine positive Einstellung, und am besten noch ein festes soziales Gefüge, welches unterstützend zur Seite steht, und auch in manchmal düsteren Momenten hilft, die eigenen Gedanken zu zerstreuen bzw. auf etwas Angenehmes zu richten, können bei der Bewältigung dieser Herausforderung ungemein helfen.
Wenn man sich erst mal mit dieser neuen Situation arrangiert hat, und den Blick vorsichtig optimistisch nach vorn richtet, fällt es viel leichter, erst mal einen Schritt nach dem anderen zu machen.
Irgendwann blickt man dann zurück und stellt zufrieden fest, dass man es schon ein ganz schönes Stück weit geschafft hat.


Ich hoffe, dass ich dich mit dieser Wand aus Text nicht erschlagen habe, und wünsche dir alles erdenkliche Gute für die kommenden Wochen und Monate.
Bei Rückfragen steh ich gern zur Verfügung.
paolo
Onlyjoking
19.08.2019 22:32:38
Hallo Paolo,

vielen herzlichen Dank, dass du deine Erfahrungen hier teilst. Die "Wand aus Text" hat mich überhaupt nicht erschlagen. Im Gegenteil: Gerade ein so ausführlicher Bericht ist sicherlich nicht nur für mich, sondern für viele Betroffene sehr wertvoll.

Ich hätte da noch ein paar Fragen zur prophylaktischen Einnahme von Keppra bzw. Antiepileptika i. A. und Autofahren. Werde dazu einen neuen Thread eröffnen, damit die Frage in diesem "Nebenwirkungs-Thread" nicht untergeht.

Paolo, du hast echt schon eine Menge mitgemacht. Ich wünsche Dir viel Kraft für die weiteren Behandlungen und alles Gute. Und vielen Dank nochmal für den Erfahrungsbericht!
Onlyjoking
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