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Thema: Atypisches Meningeom Strahlentherapie

Atypisches Meningeom Strahlentherapie
Honig1
18.10.2021 18:53:10
Hallo ihr Lieben,

Ich stelle mich erst einmal kurz vor. Ich bin 28 Jahre alt und bei mir wurde Anfang August im MRT ein 7x7x1 cm großes, parasagitales Falxmeningeom gefunden. Da es schon ein ausgeprägtes peritumorales Ödem gab und ich die Monate davor mehrere fokale epileptische Anfälle hatte , wurde eine Woche später direkt operiert.
Auf Grund der Lage zur Sinus sagittalis konnte das Meningeom nur nach Simpson grad 2 entfernt werden.
Die histologische Untersuchung ergab, dass es sich um ein atypisches Meningeom WHO 2 handelt und aufgrund des höheren Rezidivrisikos soll nun drei Monate nach Op eine Nachbestrahlung stattfinden.
Es handelt sich um eine fraktionierte stereotaktische photonenbestrahlung über 6 Wochen.

Bei den atypischen Meningeomen scheint mir die Studienlage zur Relevanz der adjuvanten Strahlentherapie noch recht dürftig.
Gibt es unter euch jemanden mit ähnlicher Diagnose? Falls ja wurde euch eine Strahlentherapie empfohlen oder wait and See?
Ich bin gerade einfach etwas verunsichert ob der Nutzen der Strahlentherapie dem Risiko von Strahlensschäden überwiegt.

Liebe Grüße
Honig1
Prof. Mursch
18.10.2021 22:20:03
Ohne Ihre Bilder oder den OP Bericht zu kennen:
Es kann möglich sein, engmaschig zu kontrollieren und beim ersten Wachstum zu bestrahlen.


Prof. Dr. med. Kay Mursch
Neurochirurg
Zentralklinik Bad Berka
Prof. Mursch
KaSy
18.10.2021 23:09:05
Hallo, honig1,
Es gibt jahrzehntelange Erfahrungen mit der fraktionierten Photonenbestrahlung, die besagen, dass bestrahlte (atypische oder anaplastische) Meningeome mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Rezidive bilden, wenn sie vollständig bestrahlt wurden. Vollständig bedeutet, dass ein Sicherheitssaum von 2 cm um das Gebiet herum mit bestrahlt werden muss, da sich dort versteckte Tumorzellen befinden, die sich irgendwann wieder zu teilen beginnen und zu Rezidiven werden.

Gegenüber der ausschließlichen Entfernung des WHO-II/III-Meningeoms bringt die Strahlentherapie eine sehr hohe Sicherheit, dass kein Rezidiv an dieser Stelle entsteht.

IMir selbst wurde 1995 ein WHO-I-Meningeom vollständig entfernt, das eine vage Tendenz zu einem atypischen Tumor hatte. Vier Jahre lang gab es keine Veränderung in den MRT-Kontrollen.
Kurz danach fiel mir eine Veränderung auf, ich ließ vorzeitig ein MRT machen und stellte mich dem NC vor, der ein Rezidiv feststellte.
Nun musste die OP umgehend erfolgen!
Und es wurde so bald wie möglich nachbestrahlt, was wegen einer verzögerten Wundheilung erst nach 6 Wochen begonnen werden konnte.
Ich hatte an dieser Stelle nie wieder ein Rezidiv.

Die Strahlenschäden wurden mir dramatischer geschildert, als ich sie im Nachhinein empfand.
Mein Meningeom befand sich im Persönlichkeitsbereich und dadurch wurden mir verschiedene kognitive Probleme vorhergesagt. Tatsächlich hatte ich ein eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis und Konzentrationsschwierigkeiten. Außerdem nahm im Laufe der 6 Wochen die Müdigkeit zu und die körperliche und psychische Belastbarkeit ab.
Ich wusste, dass man auch nach einer optimal verlaufenden Meningeom-OP einige Monate bis zur Wiedereinarbeitung benötigt und brauchte auch diesmal nach dem Abschluss der Bestrahlung 6 Monate. Vier Wochen davon war ich in der AHB, wo ich mit möglichst vielen sportlichen Aktivitäten, verwöhnenden Therapien, Psychologie-Gesprächen und schönen Dingen die ersten 6 Wochen überbrücken konnte. Für den Alltag zu Hause (allein mit drei nicht mehr kleinen Kindern) fühlte ich mich nicht nicht fit genug und fuhr in eine einsame (mir sehr gut bekannte) Hütte im Wald. (Autofahren war kein Problem, aber ich brauchte viel mehr Pausen als üblich.)
Nach 6 Monaten begann ich für 6 Monate mit der Wiedereinarbeitung als Lehrerin. Es war zunächst nicht leicht, aber die wenigen Stunden gelangen gut.
Insgesamt habe ich (im Rückblick betrachtet) etwa 2 Jahre gebraucht, bis ich die Folgen der Bestrahlung nicht mehr bemerkte, da hatte ich aber bereits 1,5 Jahre wieder mit voller Leistung gearbeitet.

Später wurde bei mir ein Meningeom am rechten Rand der Bügelschnittnaht entdeckt und entfernt. Obwohl es anaplastisch war, beschloss die Tumorkonferenz, es nicht zu bestrahlen.

3,5 Jahre danach wurde an dieser Stelle ein Rezidiv entdeckt und entfernt. Nun wurde zügig nachbestrahlt, sobald die Wunden sicher verheilt waren, das war nach 2-3 Wochen der Fall.

Diese Bestrahlung betraf eine kleinere Stelle nahe des Ohres. Es gab keine Strahlenschäden, die ich bemerkt habe, keine Müdigkeit, keine psychischen Überlastungen, keine kognitiven Störungen. Nach der Bestrahlung fuhr ich bald wieder recht häufig Auto und auch die Reaktionszeit war so kurz wie immer.

Auch an dieser Stelle gab es nie ein Rezidiv.


Ich kann also die Aussage, die ich auf einigen Hirntumorinformationstagen von erfahrenen Strahlen-Ärzten gehört habe, aus eigener Erfahrung bestätigen.

Die Strahlenschäden sind von der bestrahlten Region abhängig und können harmlos, vorübergehend, aber auch schwerwiegend sein. Letzteres kam bei mir nicht vor, aber ich habe sehr selten davon gelesen.

Meine Äußerung über die "Vollständigkeit" bezieht sich auf meine dritte Bestrahlung. Das nahe eines Sehnervs liegende Orbita-Meningeom konnte nur teilweise entfernt werden. Es stellte sich als "nur" atypisch heraus. Es sollte baldmöglichst bestrahlt werden, aber durch eine sehr problematische und langwierige Wundheilungsstörung konnte damit erst mehr als 14 Monate nach der OP begonnen werden.
Das Restmeningeom war in diesem Zeitraum bereits wieder so groß wie der ursprüngliche Tumor! Die Bestrahlung erfasste zwar den Tumor vollständig, aber der Sicherheitssaum musste zum Sehnerv hin auf 1 cm verringert werden.

Auch nach dieser Bestrahlung hatte ich kaum bemerkbare Folgen. Mir ging es vorher schon wegen der vielen OPs des vergangenen Jahres nicht optimal. Danach ging es mir aber nicht schlechter, konkrete Strahlenschäden könnte ich auch diesmal nicht benennen.

Nach 2,5 Jahren wuchs der von den Strahlen verschonte Rest wieder und erzeugte Symptome bei dem betroffenen Auge. Drei NCs entfernten so viel wie möglich. Es ist weiterhin ein "nur" atypisches Meningeom.


Ich rate Dir, Dich bei den Radioonkologen und den Neurochirurgen ganz genau danach zu erkundigen, welche strahlenbedingten Folgen bei Dir persönlich wegen der Lage des Meningeoms zu erwarten sind.

Das kann individuell sehr unterschiedlich sein. Erfahrene Radioonkolgen wissen durch die verpflichtenden Nachkontrollen ihrer Patienten recht gut, welche Folgen auftreten können und wie lange sie andauern. Mindestens 5 Jahre lang stellen sich ihre bestrahlten Patienten regelmäßig bei ihnen vor und werden nach Kurz-, Langzeit- und Spätfolgen befragt bzw. untersucht.

Ich denke, wenn keine gravierenden Folgen zu erwarten sind, die Deine Lebensqualität derart einschränken, dass Du nicht mehr arbeiten gehen und keine Familie gründen bzw. mit ihr glücklich leben kannst, dann ist eine Bestrahlung besser als das Risiko eines Rezidivs mit einer erneut erforderlichen OP und der dann garantierten Bestrahlung.

Erkundige Dich vielleicht auch bei anderen Strahlenzentren.

Das habe ich vor meiner letzten Bestrahlung wegen der Risiko-Region auch getan. Drei weitere Strahlen-Experten aus anderen Uni-Kliniken haben sich gleichartig geäußert. Mein Auge sieht nach wie vor 100%.

Ich wünsche Dir eine wissende und gut durchdachte Entscheidung.
Alles Gute!
KaSy
KaSy
Honig1
21.10.2021 15:54:30
Vielen Dank für Ihre Einschätzung Prof. Mursch!

Liebe KasSy,

Dir auch vielen Dank für deine ausführliche Antwort.
Ich hatte bereits ein erstes Gespräch mit dem Strahlentherapeuten.
Da keine Risikostrukturen um die Tumorregion liegen, wird von relativ wenigen Nebenwirkungen ausgegangen. Weder Hippocampus noch Hormon beeinflussende Strukturen sind im direkten Bestrahlungsfeld. Am Wahrscheinlichsten könnten erneut Sensibilitätsstörungen auftreten und natürlich die üblichen Strahlennebenwirkungen wie Müdigkeit und unvorhersehbare Spätfolgen.
Von daher tendiere Ich auch eher dazu es Bestrahlen zu lassen.

Liebe Grüße
Honig1
Honig1
KaSy
21.10.2021 16:11:01
Liebe Honig1
Das klingt gut, wenn man das in dieser Situation so sagen darf.

Du weißt, dass Du für die Fahrten zur Strahlentherapie vom zuständigen Arzt eine "Verordnung für die Krankenbeförderung" bekommen kannst, da Du in diesen sechs oder mehr Wochen nicht fahrtauglich bist, es sich um eine schwerwiegende Erkrankung handelt und es sich um eine so genannte Serienfahrt (Zuzahlung nur für die erste Hin- und letzte Rückfahrt) handelt.
Du musst die Verordnung bei der Krankenkasse einreichen, sie muss es akzeptieren und mitunter nennt sie Dir ein Taxiunternehmen, mit dem sie einen Vertrag hat.
Ich habe bei meinen drei 6-Wochen-Bestrahlungen immer sehr liebe Taxifahrer/innen gehabt, die auch meiner Psyche gut taten.
Ich habe aber auch von anderen gelesen, dass es negative Ausnahmen geben soll. Tatsächlich ist es für die Taxifahrer aber eine gute und sichere Einnahmequelle, Krankenfahrten (zu Bestrahlungen, Chemotherapien, Dialysen) zu übernehmen. Solltest Du mit "Deinem" Taxifahrer nicht klarkommen, solltest Du das seinen Chefs (und der Krankenkasse) mitteilen, denn Wohlfühlen gerade bei diesen Fahrten dient sehr dem Erfolg der Therapie.

KaSy
KaSy
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