"Fahreignung bei neurologischen Erkrankungen" von Jutta Küst (S. 11-12)
"Fahren und neurologische Erkrankungen
Autofahren dient dem Erhalt der Mobilität, ermöglicht Eigenbestimmtheit und Unabhängigkeit von anderen. In unserer Gesellschaft stellt es einen wichtigen Aspekt der Lebensqualität dar, häufig ist es auch Voraussetzung für das Ausüben einer Berufstätigkeit. In der BRD gibt es aufgrund der mangelnden Meldepflicht bei Erkrankungen keine Statistiken darüber, inwieweit bestimmte Krankheiten die Fähigkeit, Auto zu fahren, einschränken. Wir erfahren lediglich in Einzelfällen aus der Presse, dass ein Unfall durch einen epileptischen Anfall oder einen Herzinfarkt am Steuer verursacht wurde. Ob bestimmte Krankheiten die Fahreignung tatsächlich einschränken, kann man aufgrund von Untersuchungen aus anderen Ländern abschätzen; dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Fahreignung landesspezifisch unterscheiden. Untersuchungen haben ergeben, dass ca. 50 % aller hirngeschädigten Patienten ihre Fahreignung wieder erlangen. Für den Einzelfall lassen sich daraus jedoch kaum Prognosen ableiten, da in diesen Studien Patienten mit sehr unterschiedlichen Schädigungen und Schweregraden der Beeinträchtigungen untersucht wurden.
30 bis 50 % aller Patienten mit neurologischen Krankheiten in der BRD nehmen ohne vorherige Untersuchungen das Fahren wieder auf. Mehr als die Hälfte der Betroffenen, bei denen die Fahreignung nicht mehr gegeben ist, geben an, nicht informiert zu sein. Bei der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU) stellen neurologische Patienten nur einen geringen Anteil der Untersuchten (0,8 % im Jahr 2002). Im Akutkrankenhaus kann der Zeitpunkt für eine Aufklärung durchaus noch zu früh sein, da andere Probleme vorrangiger sind; die Frage nach der Fahreignung stellt sich meist am Ende einer stationären Rehabilitationsmaßnahme.
Ein Weg, zu Erkenntnissen über Einschränkungen der Fahreignung durch neurologische Erkrankungen zu gelangen, besteht darin, zu untersuchen, welche Probleme bei einer praktischen Fahrverhaltensprobe auftreten können. In der folgenden Tabelle werden die Ergebnisse einer solchen Untersuchung dargestellt. Sie geben Aufschluss über häufig auftretende Probleme, aber auch über begünstigende Faktoren, die wichtige Grundlagen der Therapie der Fahreignung darstellen können.
Tabelle 1 Qualitative Analysen des Fahrverhaltens nach Hirnschädigung
(nach Lindquist et al., 2001)
Fahrprobleme
Geschwindigkeit: eingeschränkte Geschwindigkeitskontrolle, Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzungen
Handhabung des Fahrzeugs: unbeständige Brems- und Gaspedalbedienung
Position des Kfz: Probleme mit der Wahrnehmung der Fahrzeuggröße, Position auf Straße, im Kreisverkehr, in engen Straßen, schlechtes Spurhalten
Aufmerksamkeit: mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber Fußgängern, in Wohngebieten, im Kreisverkehr, bei Verkehrsschildern und Ampeln
Verkehrsverhalten: mangelnde Beachtung anderer Verkehrsteilnehmer, Verstoß gegen Vorfahrtsregeln
Weitere problematische Bereiche
Orientierung: in komplexen Verkehrssituationen geht die Orientierung verloren, mangelnder Überblick an freien Kreuzungen, häufige Fragen um Rat
Entscheidungsfindung: Schwierigkeiten, selbstständig Lösungen für komplexe Situationen zu finden
Vertrauen in die Fahrsituation: auch erfahrene Fahrer wirken wie Anfänger
Kompensationsmöglichkeiten
Antizipation: sorgfältige Planung der Fahrt, Zeitfenster für Entscheidungen ermöglichen
Langsamere Fahrweise: Abstand halten, Verlangsamen des Tempos bei Gesprächen
Interesse an sicherem Fahren
Fahrerfahrung
Diese Untersuchung zeigt die Möglichkeit vielfältiger Probleme. Gleichzeitig werden aber auch Möglichkeiten zum Ausgleich (Kompensation) dieser Probleme aufgezeigt."