Sebastian[a]
Fatigue - unterschätztes Müdigkeitssyndrom bei Krebs
N24 Aktiv Trend 25.04.01
In Deutschland erkranken jedes Jahr rund 500.000 Menschen an Krebs. Bei mindestens jedem zweiten dieser Patienten kommt es durch die Tumorerkrankung selbst oder aber durch die Chemo- bzw. Strahlentherapie zu andauernden oder immer wieder auftauchenden Phasen vollkommener körperlicher und geistiger Erschöpfung. Die Betroffenen sind dann nicht einmal mehr in der Lage, die einfachsten alltäglichen Verrichtungen selbst zu übernehmen. Sie werden abhängig von fremder Pflege, isolieren sich gleichzeitig sozial, da sie keine Kontakte nach außen mehr aufrechterhalten können.
Fatigue (gesprochen: Fatieg) ist nach verschiedenen Untersuchungen eine der am weitest verbreiteten Nebenwirkungen bei Krebspatienten. Nach neuesten Zahlen sind zwischen 60 und 96 % aller Patienten davon betroffen. Der Begriff stammt aus dem Französischen und bedeutet übersetzt Müdigkeit - zutreffender wäre es allerdings, von "Erschöpfung" zu sprechen. Befragungen von Patienten zufolge empfinden diese die tief sitzende Erschöpfung als viel belastender als eventuell auftretende Schmerzen während und nach einer Krebsbehandlung. Ursache der schweren Erschöpfung ist in den meisten FälIen eine Blutarmut (Anämie), die durch den Tumor oder die Tumorbehandlung ausgelöst wird. Indem man die Patienten ausreichend mit dem körpereigenen blutbildenden Hormon Erythropoetin versorgt, lassen sich die Symptome wirksam bekämpfen und die Lebensqualität der Betroffene deutlich steigern. Ein gutes Beispiel für die Fatigue und den Erfolg der Erythropoetin- Therapie ist der mehrfache Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong.
Wie äußert sich Fatigue?
Fatigue hat Auswirkungen auf physische (Kurzatmigkeit, schnelle Ermüdung und Herzjagen), psychische (beeinträchtigte Gedächtnisleistungen, Depression) und soziale Funktionen (Rückzug und Isolation). Während beim Gesunden die Erschöpfung über den Tag hin zunimmt, tritt sie beim Krebskranken eher gleichmäßig, jedoch in einem höheren Maße in Erscheinung und ist auch durch ausreichende Nachtruhe nicht mit der von Gesunden vergleichbar. Für Patienten, die unter Fatigue leiden, stellen selbst einfache Arbeiten des täglichen Lebens eine oft unüberwindliche Hürde dar. Aufgrund der psychischen Verfassung und des emotionalen Wohlbefindens haben zusätzlich zu den alltäglichen Problemen fast 30% der Patienten sexuelle Probleme. Das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr bewältigen zu können, kann die Betroffenen in die soziale Isolation führen. 71% der Fatigue-Patienten sind aufgrund der Erschöpfung jeden Monat mind. einen Tag arbeitsunfähig und sogar 28% mussten ihre Arbeitsstelle ganz aufgeben. Typisch für die Fatigue bei Krebspatienten sind die vielen unterschiedlichen Faktoren, die zu ihrer Entwicklung und Ausprägung beitragen können, wie zum Beispiel Alter des Patienten und bereits bestehende gesundheitliche Probleme. Außerdem spielen die Art des Tumors selbst und die Behandlungsform eine Rolle dabei, ob und wie stark ein Patient von Fatigue betroffen ist. Die Symptomatik tritt bei den herkömmlichen Behandlungsformen Strahlen- oder Chemotherapie oder tumorbedingt auf und kann sich im Verlauf von Erkrankung und Behandlung ändern.
Woher kommt Fatigue?
Anämie als Ursache von Fatigue
Bei einem gesunden Menschen werden stündlich etwa 10 Milliarden alte oder defekte Blutzellen aus dem Organismus entfernt. Gleichzeitig entstehen im Knochenmark ebenso viele neue Zellen. Die Bildung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) im Knochenmark wird durch das Hormon Erythropoetin angeregt. Sie sind im Zusammenspiel mit dem Blutfarbstoff Hämoglobin (Hb) für die Sauerstoffversorgung des gesamten Organismus zuständig. Wird die Produktion der roten Blutkörperchen in irgendeinem Stadium gestört, kommt es zu einer Anämie, auch Blutarmut genannt. Sie beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit des Körpers in allen Bereichen und führt zu großer physischer Abgeschlagenheit aber auch zu mentalen Defiziten und Depressionen. Das Hormon Erythropoetin, das die Bildung der Erythrozyten im Knochenmark anregt, entsteht in gesunden Nieren. Bei dem Gros der Krebspatienten führt entweder der Tumor selbst zu einer unzureichenden Erythropoetinproduktion in den Nieren, oder die Strahlen- und Chemotherapien schädigen das Knochenmark in einer Weise, dass keine oder nur unzureichend neue Blutzellen gebildet werden können. Auch die Erkrankung selbst kann durch chronische Entzündungen und Infektionen eine Anämie verursachen. Dabei können ein beeinträchtigter Eisenstoffwechsel, Blutverluste und Infiltration des Knochenmarks mit Tumorzellen eine Rolle spielen.
Andere Ursachen von Fatigue
Auch psychische Faktoren, wie Stress durch Krankenhausaufenthalte oder Ängste, die mit der Bewältigung der Krankheit zu tun haben, dadurch hervorgerufene Schlafstörungen sowie chronische Schmerzen können die Entstehung einer Fatigue-Symptomatik zur Folge haben. Ernährungsbedingte Faktoren ( Vitamin- und Eisenmangelzustände) können ebenfalls eine Rolle spielen, zum Beispiel Auszehrung durch Mangelernährung, krankheitsbedingt schlechte Nährstoffverwertung oder Appetitlosigkeit. Häufig werden durch die Krebsbehandlung auch Übelkeit, Erbrechen und Durchfall hervorgerufen.
Der Einfluss der Behandlungsform
Fatigue zeigt je nach Therapieform deutliche Unterschiede bezüglich der Häufigkeit ihres Auftretens, Stärke und Verlauf:
Chemotherapie
Bei einer Krebsbehandlung mit Chemotherapie treten Fatigue-Symptome je nach Einsatz der Medikamente bei 50 bis 96 % der Patienten auf und können zu Verzögerungen im Ablauf oder sogar zum Abbruch der Behandlung führen. Gewöhnlich klagen die Patienten drei bis vier Tage nach Beginn der Chemotherapie über Erschöpfung, wobei diese bis zum zehnten Tag zunimmt. Anschließend lässt die Müdigkeit bis zum Beginn des nächsten Therapiezyklus wieder nach. Nicht selten zeigen die Patienten vor der nächsten Chemotherapie sogar erhöhte Energie. Der Anteil derer, die von Fatigue betroffen sind, steigt mit der Zahl dieser Behandlungen.
Chirurgische Eingriffe
Viele Patienten klagen bereits vor dem operativen Eingriff über Müdigkeit. Sie ist dann zehn Tage nach der Operation am stärksten ausgeprägt. Gewöhnlich ist sie drei Monate nach einem Eingriff nicht mehr vorhanden. Zur Müdigkeit nach Operationen tragen unter anderem Blutverlust, Störungen des Salzhaushaltes und ein beschleunigter Abbau von Körpereiweißen bei. Zudem können die Veränderung der Herz-Kreislauf-Funktionen während der Operation, eine Verminderung der körpereigenen Erythropoetin-Produktion sowie eine herabgesetzte Tätigkeit von Nerven und Muskeln durch Bettlägerigkeit Fatigue-Symptome hervorrufen.
Strahlentherapie
Nach einer Strahlentherapie tritt Fatigue in 35 bis 100% der Fälle auf. Sie hängt nicht von Tumortyp oder -lokalisation ab, ist aber umso wahrscheinlicher, je größer das bestrahlte Areal ist. Ein Grund dafür liegt in der Zerstörung von blutbildenden Zellen im Knochenmark oder von roten Blutkörperchen, wodurch es wiederum zu einer Anämie und dadurch zu einer mangelhaften Sauerstoffversorgung des gesamten Organismus kommt. Ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium und die Anwendung kombinierter Strahlen-Chemotherapien erhöhen das Risiko für ein Anhalten der Schwäche. Charakteristisch ist die Zunahme der Müdigkeit mit jedem Behandlungszyklus; sie kann bis zu drei Monate nach der Bestrahlung anhalten.
Immuntherapie
Bei einer Immuntherapie wird das körpereigene Abwehrsystem des Patienten medikamentös gestärkt. Bei dieser Behandlung können grippeähnliche Nebenwirkungen auftreten. Auch körperliche Auszehrung sowie geistige Ausfallerscheinungen werden beobachtet. Die Erschöpfung und Schwache kann solche Ausmaß=
e annehmen, dass die Therapie unterbrochen werden muss.
Wie lässt sich Fatigue behandeln?
Korrektur der Anämie
Zur Überwindung der Anämie kommen therapeutische Maßnahmen wie die Gabe von Eisen und Vitaminen, Gabe von künstlich hergestelltem Erythropoetin und Veränderungen des Therapieschemas in Betracht. Häufig waren bisher Bluttransfusionen das Mittel der Wahl, die jedoch das Risiko der Übertragung schwerer Infektionskrankheiten in sich bergen, so dass Patienten sie zunehmend ablehnen. Klinische Studien haben belegt, dass rekombinantes Erythropoetin bei Tumorpatienten zur Linderung oder Behebung einer Anämie - aber auch zur Vorbeugung - wirksam ist und die Lebensqualität der Patienten verbessert.
Andere medikamentöse Therapieansätze
Zur Linderung der Fatiguesymptome ist auch die Behandlung mit Kortikosteroiden, Progesteron, Anabolika oder Psychostimulanzien versucht worden. Kontrollierte Studien zum Nachweis der Wirksamkeit fehlen jedoch noch.
Nichtmedikamentöse Therapieansätze
Es eine Vielzahl von nichtmedikamentösen Therapieansätzen bei Fatigue. Erfahrene Pflegekräfte können den Patienten wertvolle Tipps für den Alltag geben. So sollten Aktivitäten, die viel Energie verbrauchen identifiziert und kräftesparend umgestaltet werden. Tumorpatienten sollten aber auf keinen Fall völlig untätig werden. Denn ein Übermaß an Bettruhe kann paradoxerweise das Müdigkeitsgefühl verstärken. Angemessene Bewegung dagegen regt wichtige Muskeln an und trägt damit zum Erhalt der Mobilität bei. Eine Prioritätenliste trägt ebenso wie eine gute Schmerzkontrolle und die Einplanung von Ruhephasen dazu bei, dass die Patienten nicht gänzlich untätig werden. Psychologische Behandlungsansätze konzentrieren sich auf die Verbesserung der Krankheitsbewältigungsstrategien; hierbei sind gezielte Entspannungstechniken und Stressbewältigungsprogramme hilfreich.
Quelle: N24 vom 24.04.01