Worauf hast du gewartet?
Die Hochwasserkatastrophe hat einen Mann auf das Dach seines Hauses getrieben. Doch auch dort ist er nicht sicher - das Wasser steigt bedrohlich an. Retter in einem Boot kommen vorbei und wollen ihn mitnehmen. "Nein danke", antwortet er, "Gott wird mich retten." Es wird Nacht, das Wasser steigt weiter, der Mann klettert auf den Schornstein. Wieder kommt ein Boot vorbei, und die Helfer rufen: "Steig ein!" "Nein, danke, Gott wird mich retten." ist die Antwort. Schließlich kommt ein Hubschrauber. Die Besatzung sieht ihn im Scheinwerferlicht, das Wasser reicht ihm bis zum Kinn. "Nehmen Sie die Strickleiter", ruft einer der Männer. "Nein, danke, Gott wird mich retten." sind die letzten Worte des Mannes, denn kurze Zeit später ertrinkt er. Im Himmel beschwert er sich bei Gott: "Mein Leben lang habe ich treu an Dich geglaubt. Warum hast Du mich nicht gerettet?" Gott sieht ihn erstaunt an: "Ich habe dir zwei Boote und einen Hubschrauber geschickt. Worauf hast du gewartet?"
Eine Geschichte zum Schmunzeln, vielleicht ein wenig platt, aber für mich enthält sie eine wichtige Wahrheit: Auf die Frage "Wie greift Gott in unser Leben ein?" gibt sie die Antwort: Durch Menschen. Er schickt sie uns, wenn wir Hilfe brauchen. Und die dürfen und sollen wir auch in Anspruch nehmen.
Manche warten stattdessen auf göttliche Wunder und lassen sich nicht ärztlich behandeln oder lehnen eine Blutübertragung ab. Wieder andere hoffen in einer Ehekrise, dass irgendwoher eine Wende kommt und nehmen deshalb keine Eheberatung in Anspruch. Der Glaube an Engel - unsichtbare Wesen und Kräfte, die uns begleiten, helfen und beschützen - hat Hochkonjunktur. Wohlgemerkt: Ich leugne nicht, dass es dann und wann "Schutzengel" gibt. Meistens aber sind Engel aus Fleisch und Blut: Eltern, Sanitäter, Ärzte, aber auch Freunde, manchmal völlig Unbekannte.
Überlegen Sie einmal, wem Sie Gutes verdanken, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken... Alle wurden (und werden) sie von Gott geschickt, sind seine Boten - oft ohne es zu ahnen. Umgekehrt können (und sollen) auch wir andere ermutigen, trösten, ihnen Orientierung und Hoffnung geben.
Denn Gott ist nicht nur zu finden in der Kirche, im Gottesdienst, in Stille und Abgeschiedenheit, im Gebet oder im Fasten. Sondern er kommt uns vor allem durch Menschen nahe. Denn - so haben wir es an Weihnachten gefeiert - er wurde selbst Mensch. Als Jesus war er ein Retter und Helfer, Vorbild und Lehrer. Bis heute zieht sein Leben und Sterben Kreise, steckt Menschen an, seinem Handeln zu folgen und ihm zu vertrauen. "Worauf hast du gewartet?" - Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Menschen wahrnehmen, die Gott Ihnen schickt.
Pfarrer Johannes Fritzsche
Ev. Kirchengemeinden
Bellersheim und Obbornhofen
Diese Betrachtung wurde als Wort zum Sonntag am 1. April 2006 in der Gießener Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.