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Thema: Hamburger Modell / zurück in den Job

Hamburger Modell / zurück in den Job
JoMe
30.08.2019 09:30:11
Hallo ihr Lieben,

habe schon in der Suchfunktion geschaut, bin aber nicht ganz fündig geworden.

Ich habe eine Frage zum wieder Arbeiten gehen bzw. direkt zum Hamburger Modell.

Inzwischen ist fast ein Jahr seit meiner Operation ins Land gegangen und Mitte September bin ich endlich fertig mit der Chemo. Zuvor erfolgte eine großflächige Bestrahlung.

Nach der OP hatte ich lange große Probleme mit dem Sehen, habe aber davon nur noch ein kleines Defizit über, an das ich mich gewöhnt habe.

Die Chemo musste leider auch zwischenzeitlich unterbrochen werden, da meine Werte so schlecht wurden und ich irgendwie alle Nebenwirkungen mitgenommen habe, die es so gibt. Nichts desto trotz habe ich in einer Woche den letzten Zyklus und 6. Zyklus PC durch und bin einfach nur froh, dass dann auch endlich richtiger Alltag einkehren kann.

Ich war immer mal wieder zwischendurch ab und an für ein paar Termine Arbeiten, aber halt nicht richtig.
Im Oktober will ich jetzt aber wieder anfangen. Realistisch sind jedoch anfangs nur um die 2 Stunden und ggf. sogar nur alle 2 Tage und ich würde das auch gerne über mindestens 4 Monate strecken, um mich nicht zu überfordern.
Ich arbeite als Tierärztin, da ist es oft schwer wirklich Pause zu machen, dann steht doch der Notfall in der Tür und man muss immer konzentriert sein. Multitasking ist gefragt, Dosierungen muss man im Kopf haben, schnelle Entscheidungen treffen. Da habe ich momentan noch etwas Angst vor :/ Mein Kopf bringt nicht mehr die Leistung, wie früher...

Was habt ihr für Erfahrungen bezüglich KK?
Gibt es Probleme, wenn ich das Modell der Eingliederung über 4 oder sogar 6 Monate strecke?

Vielen Dank für eure Antworten :)
JoMe
KaSy
30.08.2019 13:06:57
Liebe JoMe,
beim Suchen nach Deiner Frage könntest Du unter "(schrittweiser)
Wiedereingliederung" fündig werden.

Dabei gibt es normalerweise eine Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber, der Krankenkasse und Dir mit mehreren gleichen Formularen.
Dein Hausarzt füllt mit Dir nach Deinen Wünschen für die Wiedereinarbeitung diese Formulare aus. Darin geht es um die normale Arbeitszeit und die Zeiten, in denen Du zunächst und dann nach und nach monatlich steigernd arbeiten möchtest.
Es können auch bestimmte Belastungen (bei Dir Notfälle) zunächst ausgeschlossen werden.

Du giltst während dieser Zeit als arbeitsunfähig.
Das ist insofern von Vorteil, dass Du den Arbeitsversuch jederzeit abbrechen kannst. Du hast es auch selbst in der Hand, mit Deinem Hausarzt darüber zu bestimmen, die Arbeitszeiten langsamer zu steigern, als es zunächst gedacht und aufgeschrieben war.
6 Monate Wiedereingliederung sollten gar kein Problem sein, ich glaube, man kann das bis zu einem Jahr ausdehnen.

Es gibt Modelle, wo sich der Arbeitgeber an den Kosten (entsprechend Deiner jeweiligen Arbeitszeit) beteiligt. Bei mir hat die Krankenkasse den Gesamtbetrag gezahlt.

Da Du ja die Wiedereingliederung startest, hat die Krankenkasse (eigentlich) kein Recht, sich aus ihrer Verantwortung herauszunehmen und Dich womöglich in die Rente zu schicken.
Sollte es da Probleme geben, hast Du den Arzt und Deinen Arbeitgeber an Deiner Seite!

Wichtig ist, dass Dein Arbeitgeber stets Bescheid weiß, wieviel Du an welchen Tagen arbeiten möchtest, denn er muss es ja mit den anderen Ärzten abstimmen. Auch für die Fälle, die Du noch nicht übernimmst, muss ein anderer hinzugerufen werden.
Dein Arbeitgeber sollte sich in dieser Zeit mit Dir auch zusammensetzen, um Dich zu fragen, wie Du mit den Anforderungen klar kommst, wo er Dich unterstützen kann, wo es Dir vielleicht doch noch zu viel ist. Zum Beispiel kann er Dich(später) bei den Notfällen zunächst als zweiten Arzt agieren lassen bzw. Dir einen Arzt zuordnen, bis Du Dich sicher genug fühlst.

Ein Rat noch:
Steigere die Arbeitszeiten und Inhalte nicht zu schnell. Es ging ein Jahr ohne Dich. Mit "ein wenig" von Dir geht es besser. Mit der Aussicht, Dich ganz wiederzuhaben, geht es der Tierarztpraxis gut, vor allem, wenn sie die Kosten nicht oder nur zum Teil tragen muss. Du musst für Dich ganz allein entscheiden, ob Dein Plan der Steigerung einzuhalten ist, denn je langsamer Du steigert, umso sicherer wirst Du die normale Arbeitsfähigkeit wieder erreichen.
Wenn Du Dich nach der Arbeit zu Hause nur noch ausruhen musst, dann war es zu viel!

Alles Gute auf diesem Weg in die Normalität!
KaSy
KaSy
JoMe
03.09.2019 11:47:39
Danke für deine ausführliche Antwort :)
JoMe
JoMe
15.10.2019 13:33:57
Hallo,

ich muss leider das Thema nochmal aufgreifen.

Gestern war mein erster Arbeitstag. Natürlich verlief alles anders als geplant und am Ende war ich fast 2 Stunden länger arbeiten und sehr viel Rücksicht wurde leider nicht genommen, was ich sehr enttäuschend fand.

Eigentlich dachte ich nicht, dass es notwendig ist, mich mit dem Thema Schwerbehinderung und Berufsleben genaustens zu befassen, da meine Arbeitsstelle immer sehr familiär war, nach dem Tag gestern sehe ich es ein bisl anders.

Ich bin 90% Schwerbehindert. Gelesen habe ich jetzt, dass ich von Mehrarbeit, also Überstunden befreit bin und mir Zusatzurlaub zusteht.

Kann mir einer Sagen, wie es mit Notdiensten bzw. Nachtarbeit aussieht?

An wen kann ich mich am Besten wenden?

Vielen Dank im Voraus
JoMe
KaSy
15.10.2019 17:46:06
Liebe JoMe,
es ist gut, dass Du wieder begonnen hast zu arbeiten!
Aber nun hast Du sehr schnell gemerkt, dass von Deinen Kolleg/innen wenig Rücksicht zu erwarten ist.
Das liegt sicher daran, dass sie denken, Du bist ja wieder da und man sieht es Dir nicht an.
Aber sie alle wissen, was Du hinter Dir hast und vor allem Dein Arbeitgeber weiß es.
Es liegt nun an Dir, Deine berechtigten Interessen zu nennen, mit dem Arbeitgeber zu besprechen und sie dann auch durchzusetzen.

Die Wiedereingliederung, früher Hamburger Modell genannt, wird jetzt als "Betriebliches Eingliederungsmanagement" (BEM als übliche Abkürzung) bezeichnet.

Dein Arbeitgeber ist dazu verpflichtet, mit Dir sehr schnell und dann nach Deinem Bedarf regelmäßig in Kontakt zu treten ("BEM-Gespräche" zu führen), um mit Dir gemeinsam zu klären, welche Möglichkeiten es im Betrieb gibt,
- um Deine bisherige Arbeitsunfähigkeit zu überwinden
- einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen
- Deinen Arbeitsplatz zu erhalten.

Bei einem größeren Betrieb gibt es eine Schwerbehindertenvertretung bzw. einen Betriebsarzt sowie einen Personalrat, der helfen sollte.

Das gibt es vermutlich in Eurer Tierarztpraxis nicht.

Zuständig wären nun die "Integrationsämter" oder "gemeinsame Servicestellen".

Zuerst solltest Du sofort freundlich auf Deinen Arbeitgeber zugehen und um eine "BEM-Gespräch" möglichst gleich oder noch in dieser Woche bitten.Sage ihm, dass Du mit ihm alles besprechen möchtest, was für Dich jetzt wichtig ist, um arbeiten zu können. Deine ersten Probleme kannst Du ihm sofort sagen.
Lass ihm aber auch Zeit, sich selbst mit den Gesetzen zu befassen bzw. bei den zuständigen Stellen nachzufragen sowie über innerbetriebliche Möglichkeiten nachzudenken.

Generell gilt das SGB IX (Sozialgesetzbuch).

Schreibe Dir Deine "Wünsche" für das Gespräch auf.

- Du darfst keinesfalls länger arbeiten, als der Arzt es erlaubt hat. Du bist krankgeschrieben und das musst Du ihm sagen. Vermutlich bezahlt Dich Dein Arbeitgeber gar nicht.
- Sage Deinem Arbeitgeber, dass Du Anspruch auf den Zusatzurlaub von einer Arbeitswoche hast. (Falls Ihr 6 Tage arbeitet, dann sind es 6 Tage.)
- Du darfst Dir eine "Arbeitsassistenz" wünschen. Das ist gesetzlich geregelt, aber es darf nicht dazu führen, dass nur, weil Du arbeitest, Deine Kollegen mehr als bisher (als Du gar nicht da warst) arbeiten müssen. Sprich das an, aber überlege, ob es innerbetrieblich oder außerbetrieblich (Facharzt von einer anderen Praxis, der von der Krankenkasse finanziert wird) möglich ist und wie lange Du es benötigst.
- Mehrarbeit bzw. Überstunden darfst Du nur dann machen, wenn Du vorher gefragt wirst. Das kannst Du für die erste Zeit generell völlig ablehnen.
- Für Notdienste gilt das Gleiche, denn Du musst in Deiner Freizeit auf Abruf reagieren können, solltest Dich aber erholen. Notdienst ist auch psychisch eine zusätzliche Belastung. Du musst für Dich die Sicherheit haben, dass Du nicht plötzlich einen Anruf erhältst, weil ein Tier zu versorgen ist.
- Ich denke, dass Du auch Nachtarbeit zunächst ablehnen solltest, selbst wenn es einen zeitlichen Ausgleich dafür gibt. Bis Du wieder nachts eingesetzt wirst, solltest Du die Nacht zur Erholung nutzen.

(Allerdings sind diese Details von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich und demzufolge im Gesetz nicht unbedingt festgelegt. Das musst Du in dem "BEM-Gespräch" vereinbaren.)

- Notiere Dir weitere "Wünsche", die innerbetrieblich erfüllbar sind.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat einen "Ratgeber für Menschen mit Behinderung" herausgegeben, den Du bestellen kannst:
Bestell-Nr.: A 712
Tel.: 030 / 18 272 272 1
Fax: 030 / 18 10 272 272 1
E-Mail: publikationen@bundesregierung.de
Internet: http://www.bmas.de

Ich wünsche Dir viel Erfolg beim langsamen Wiedereinarbeiten und beim (evtl. immer wieder notwendigen) Durchsetzen Deiner Interessen.
Sage klar, dass Du nicht besser gestellt sein möchtest als Deine Kollegen, aber dass Du aufgrund Deiner geringeren Belastbarkeit mit weniger Arbeitsstunden immer genauso viel arbeitest wie Deine Kollegen mit der vollen Stundenzahl.
Dir steht Dein Arbeitsplatz zu, Du darfst nicht gekündigt werden und Du hast das Recht, die Arbeit in dem Maß auszuüben, wie es Dir möglich ist.
KaSy
KaSy
JoMe
16.10.2019 12:32:45
Liebe KaSy,

ich muss dir erneut sehr für deine Antwort Danken! Ich habe mir einige Sachen daraus notiert und hoffe, dass meine Chefin Zeit hat, damit wir nochmal die genauen Rahmenbedingungen besprechen können.

Deine Formulierungen und dein Wissen haben mir sehr geholfen und auch nochmal Mut gegeben. Ich war doch ganz schön gefrustet am Montag.

LG
JoMe
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