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Thema: Künstliches Gewebe und Tumorwachstum

Künstliches Gewebe und Tumorwachstum
lon14don
08.02.2020 11:14:56
Mein Angehöriger leidet unter einem Glioblastom (Rezidiv). Er hat nach der ersten Therapie ca. drei Jahre ohne Rezidiv gelebt. Nach einer Gürtelrose im Kopfbereich (die Seite, auf der der Tumor war) ist das Rezidiv gewachsen.

Es haben sich bei ihm nie Tumore an anderen Stellen des Gehirns entwickelt.

Mir ist folgendes aufgefallen: das Tumorgewebe beginnt am Rand des Operationsgebietes zu wachsen. Es wächst immer in das Gewebe hinein und nie in die "Operationshöhle" (den freien Bereich, aus dem das Gehirngewebe entfernt wurde).

Wäre es möglich die "Operationshöhle" mit künstlichen Gewebe zu füllen? Die Krebszellen könnten in dieses künstliche Gewebe hineinwachsen und das gesunde Gewebe wäre entlastet. Dort richten sie keinen Schaden für den Patienten an und man könnte dieses Gewebe entweder austauschen oder anderweitig behandeln, um die Krebszellen zu töten.

Ich würde mich über Feedback freuen.
Danke!
lon14don
Prof. Mursch
08.02.2020 12:10:55
Verzeihen Sie, aber das macht leider keinen Sinn.
Der Tumor wächst am Rand weiter, egal wo er sonst Platz hat.

Prof. Dr. med. Kay Mursch
Neurochirurg
Zentralklinik Bad Berka
Prof. Mursch
KaSy
08.02.2020 12:24:14
Hallo, Ion14don,
das Glioblastom ist ein hirneigener Tumor. Er entsteht aus den gesunden Zellen des Gehirns, den "Gliazellen".
Diese umhüllen, stützen und versorgen die Nervenzellen im Gehirn.

Nun könnte man theoretisch die Tumorresthöhle mit künstlichen Zellen füllen.

(Praktisch wäre eine weitere große OP mit den üblichen Risiken und zusätzlich den möglichen Abstoßungsreaktionen erforderlich.)

Nun werden sich irgendwann am Rand dieser Tumorresthöhle gesunde Gliazellen dazu entschließen, zu entarten und Tumorzellen zu werden.
Es ist aber doch nunmal ihre Eigenschaft als hirneigene Tumorzellen, die hirneigenen gesunden Zellen zu einem Glioblastom werden zu lassen.
Die werden sich nicht durch das Vorhandensein künstlicher Zellen austricksen lassen und nur diese entarten und das gesunde Gehirn in Ruhe lassen.

Wenn bei Deinem Mann ein Rezidiv entstanden ist, dann kann man sogar nicht mehr von "gesunden" Zellen sprechen. Die bisherigen Therapien haben das Glioblastom gestoppt, aber leider ist es kaum möglich, jede einzelne Tumorzelle zu vernichten. Irgendwo dort, wo das Glioblastom war, gibt es bei den meisten Betroffenen vereinzelte Tumorzellen, die wieder zu einem Glioblastom werden.

Dass das "nur" am Rand der Tumorresthöhle geschieht, liegt daran, dass es äußerst selten (etwa nur 1 Betroffener von 25000 Menschen) vorkommt, dass überhaupt hirneigene Tumoren entstehen.
Wenn an einer anderen Stelle im Gehirn Deines Mannes ein weiterer Tumor entstehen würde, hätte er absoluten Seltenheitswert.

Der scheinbare Auslöser war die "Gürtelrose" am Kopf im Bereich des (ehemaligen) Tumors. Die Gürtelrose ist eine Erkrankung der Nerven. Sie könnte also nicht Auslöser, sondern erstes Anzeichen des Rezidivs gewesen sein.

Für Deinen Mann und Euch ist das Glioblastom und nun das Rezidiv natürlich sehr schlimm.

Ihr solltet Euch jetzt jeden Tag sehr schön gestalten.

Dass Du Ideen entwickelst, wie man anders handeln könnte, ist nur zu verständlich. Behalte diese Ideen in Deinem Kopf und erzähle es bei den nächsten Gesprächen den Fachärzten. Vielleicht finden sie den Ansatz nachdenkenswert.

Ich wünsche Euch für die vor Euch liegende Zeit von Herzen alles Gute!
KaSy
KaSy
paolo
08.02.2020 15:26:30
Das ist durchaus ein interessanter Ansatz, der auch schon von Forschern in ähnlicher Form im Tierversuch erprobt wurde.

Hier ist ein Fachartikel dazu vom Februar 2019:

https://medicalxpress.com/news/2019-02-breakthrough-device-llures-aggressive-brain.html

Kurz:
Unter der Annahme, dass sich Glioblastomzellen entlang der Nervenbahnen im Gehirn ausbreiten können, versuchte man, diese Ausbreitung gezielt mit Hilfe künstlichen Gewebes zu steuern.
2014 gab es dazu die erste Veröffentlichung basierend auf einer Tierversuchsreihe.
Ein künstliches Gewebe, welches die Eigenschaften der weißen Hirnmasse aufweist, und so wie Nervenbahnen/-fasern ausgerichtet ist, wurde über einen, mit einem externen Reservoir verbundenen, speziellen Katheter bis ins Tumorgewebe ins Hirn von Ratten eingeführt, und verblieb dort eine Zeit lang.
Die Beobachtungen im Tierversuch zeigten, dass die Tumorzellen entlang dieser falschen künstlichen Nervenbahnen in den externen Behälter migrieren konnten.
Den Tumorzellen wird gewissermaßen vorgegaukelt, dass es sich um ein gesundes, körpereigenes Gewebe handelt, welches von den Zellen infiltriert werden kann.
Die Hoffnung war, die Wachstumsrichtung und die Ausbreitung der malignen Zellen indirekt lenken zu können.
Sobald die Zellen das externe Reservoir besiedelt haben, kann es entleert oder ausgetauscht werden, so dass ein "frischer" Vorrat an verfügbarem künstlichen Gewebe für weiteres Wachstum zur Verfügung gestellt werden kann.
Insgesamt zeigte sich eine Reduzierung der Ausbreitung im körpereigenen Hirngewebe, und .z.T. sogar eine Verkleinerung des Ursprungstumors um bis zu 90%.

Seit der ersten Veröffentlichung wurden die Tierversuchsreihen von der Forschergruppe mehrfach wiederholt, und die Ergebnisse konnten reproduziert werden.

Laut dem Artikel war ein Antrag auf Zulassung durch die FDA für den Einsatz in Studien am Menschen für Ende 2019 geplant. Wie der aktuelle Stand der Dinge ist, ist unklar.
Da es sich aber bisher nur um Tierversuche handelte, ist davon auszugehen, dass noch viele Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte weiterer Forschung notwendig sind, bevor man aussagekräftige Ergebnisse zum Einsatz in der Humanmedizin erwarten kann.
Für die heutigen Betroffenen ist es also keine Option, aber es ist sehr interessant zu verfolgen, welche Wege die Forschung nimmt, und was in Zukunft mögliche Ansätze bei der Therapie sein könnten.


(Anjana Jain et al.; Guiding intracortical brain tumour cells to an extracortical cytotoxic hydrogel using aligned polymeric nanofibres;
Nat Mater. 2014 Mar;13(3):308-16.; PMID: 24531400)

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24531400

Übersetzung des zweiten Links,
Abstrakt der Veröffentlichung von 2014 (Danke an die Mods/Admins):
"Das Glioblastoma multiforme ist ein aggressiver, invasiver Hirntumor mit einer schlechten Überlebensrate. Die verfügbaren Behandlungen sind unwirksam und einige Tumore bleiben aufgrund ihrer Größe oder Lage inoperabel. Es ist bekannt, dass die Tumore in die weiße Substanz eindringen und entlang der weißen Substanz und Blutgefäße wandern. Hier nutzen wir diese Eigenschaft des Glioblastoma multiforme aus, indem wir auf Polycaprolacton (PCL) basierende Nanofasern für die Invasion von Tumorzellen und damit für die Wegführung der Zellen von der Primärtumorstelle zu einem extrakortikalen Ort entwickeln. Diese extrakortikale Senke ist ein Cyclopamin-Drogen-konjugiertes Hydrogel auf Kollagenbasis. Wenn ausgerichtete PCL-Nanofaserfilme in eine PCL/Polyurethan-Trägerleitung in der Nähe eines intrakortikalen menschlichen U87MG-Glioblastom-Xenotransplantats eingebracht wurden, wanderte eine signifikante Anzahl von menschlichen Glioblastomzellen entlang der ausgerichteten Nanofaserfilme und durchlief die Apoptose im extrakortikalen Hydrogel. Das Tumorvolumen im Gehirn war nach der Insertion der ausgerichteten Nanofaser-Implantate im Vergleich zur Anwendung von glatten Fasern oder keinen Implantaten signifikant geringer."
paolo
Prof. Mursch
08.02.2020 18:18:28
@ paolo
Thanks for sharing

Ich kenne die Arbeit, hatte das aber nicht so in Einklang gebracht.

Prof. Dr. med. Kay Mursch
Neurochirurg
Zentralklinik Bad Berka
Prof. Mursch
lon14don
10.02.2020 11:04:30
Vielen Dank für die Informationen.

Als Laie hatte ich gedacht, dass eine oder wenige gesunde Gliazellen mutiert sind und sich diese durch Zellteilung ungebremst vermehren.
Ich dachte daher, das Wachstum am Rand des Operationsgebietes entsteht dadurch, dass nicht jede einzelne Krebszelle entfernt werden kann und sich diese wieder vermehren. Daher der Gedanke, dass man diese Vermehrung in den "leeren" Bereich lenken könnte..
Mir war nicht bewusst, dass weiterhin gesunde Zellen mutieren und bösartig werden.

Ich hoffe sehr, dass die Forschung weiter Fortschritte macht und Patienten zukünftig davon profitieren können.
lon14don
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