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Anne[a]

Agil, aber tödlich

Krebszellen werden unterschätzt. Sie gelten als primitive
Amokläufer, dabei sind sie raffinierte Spezialisten - vielseitig,
geschickt, erfinderisch und kommunikativ. Vier Gelegenheiten
für therapeutische Disziplinierung

Von Harro Albrecht

Dieter Hossfeld sitzt nachdenklich in seinem hellen Büro am
langen Ende des Flurs. Es sind seine letzten Stunden im
Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf. Zwei Tage
zuvor wurde der Krebsarzt emeritiert. Ja, vor fast 40 Jahren, als
er anfing, seien die Aussichten für Krebskranke außerordentlich
schlecht gewesen. Kindern mit Knochenkrebs wurden die Beine
amputiert, der Non-Hodgkin-Krebs war ein Todesurteil und
auch die Leukämie.

Aber dann verfeinerten die Ärzte die Strahlen- und
Chemotherapie, die Lage besserte sich. Heute überleben 50
Prozent der Non-Hodgkin-Kranken wenigstens fünf Jahre, die
Mediziner retten die Beine der Knochenkrebspatienten und
heilen viele Leukämieformen. Den groben Vorwurf, die
Chemotherapie sei eine »Giftkur ohne Nutzen« (Spiegel),
streitet der Onkologe vehement ab. Mehr als 80 Prozent der
Patienten überleben den Hoden- und 96 Prozent den
Schilddrüsenkrebs. Noch unveröffentlichte Daten des
Heidelberger Epidemiologen Hermann Brenner zeigen, dass es
auch in den letzten Jahren weiter aufwärts gegangen ist - auch
wenn viele Probleme nicht gelöst sind. Scheinbar besiegte
Tumoren können nach Jahrzehnten wieder aufflammen. Und
wenn einmal Metastasen den Körper besiedeln, sieht es für die
Patienten nach wie vor finster aus.

Trotzdem faszinieren Hossfeld die wuchernden Gewebe, die so
viele seiner Patienten umbrachten: »Je älter ich werde, desto
mehr Respekt empfinde ich angesichts der unglaublichen
Raffinesse dieser Zellen. Das sind Respekt heischende
Individuen.« In jüngster Zeit fänden Kollegen weltweit gehäuft
Hinweise, dass Krebs die ungesunde Seite sinnvoller Vorgänge
darstellt. Er selbst habe ja schon in »sensationellen Zeiten«
gearbeitet. Aber was sich augenblicklich in der Forschung
abspiele, sagt Hossfeld mit etwas Wehmut in der Stimme, sei
doch »sehr vielversprechend und aufregend«.

Stammzellen

zum Beispiel. Sie stehen gemeinhin für Erneuerung im Körper,
für Wachstum und Jugendlichkeit. Aber offenbar sind sie nicht
nur Jungbrunnen und verheißungsvolles Therapeutikum,
sondern auch eine lange übersehene Quelle für bösartige
Tumoren. Lange Zeit wurde angenommen, dass Krebs aus
fertigen Organzellen entsteht, die sich plötzlich unkontrollierbar
teilen. Verrückte Einzelkämpfer, Amokläufer. Bei der Leukämie
aber ist schon seit zehn Jahren bekannt, dass der Krebs von
Vorläuferzellen ausgeht, die normalerweise das verbrauchte
Blut auffüllen. Ein Sonderfall, dachte man.
Illustration: Phoebe Arns

Vergangenes Jahr aber fand Michael Clarke von der University
of Michigan solche Krebsstammzellen zum ersten Mal auch in
einem festen Tumor, beim Brustkrebs. Vor wenigen Wochen
entdeckte der kanadische Neurochirurg Peter Dirks in
Hirntumoren Krebsstammzellen. Inzwischen suchen Forscher
überall im Körper nach diesen gut versteckten Rädelsführern.

Das aktuelle Interesse am Stammbaum der Krebszelle ist keine
akademische Grille. Die Abstammung erklärt, warum zum
Beispiel Brustkrebs auch Jahrzehnte nach einer aggressiven,
scheinbar erfolgreichen Therapie wieder auftauchen kann. Die
übliche Behandlung erwischt unterschiedslos nur Zellen, die sich
wie Krebszellen sehr schnell teilen. Krebsstammzellen aber
sondern nur kurzfristig ihre bösartigen Schwestern ab - und
verstummen dann. Deshalb entgehen sie dem unspezifischen
chemischen Angriff.

Jahre später leben sie wieder auf und bringen einen neuen
Tumor hervor. »Es scheint, dass sehr, sehr wenige Zellen
genügen, um den Krebs auszulösen«, sagt Peter Dirks,
»vielleicht reicht eine einzige.« Aber wie soll man diese unter
Zillionen anderer aufspüren? Wie kann man sie ausschalten,
zumal die Rädelsführer sich kaum von normalen Stammzellen
unterscheiden? Noch sei auch nicht gesichert, ob sie aus
normalen Stammzellen entstehen oder ob sich ausgewachsene
Zellen in Stammzellen zurückentwickelt haben. »Die ganze
Sache wird durch die Entdeckung nicht leichter, sondern nur
viel komplizierter«, seufzt Dirks.

Michael Clarke stört das nicht. Er will das Übel an der Wurzel
packen und hat dafür die Firma Cancer Stem Cell Genomics
gegründet. Auch Otmar Wiestler, Vorstandsvorsitzender des
Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg,
will in diese Richtung marschieren: »Ich glaube, dass sich hier
ein völlig neues Gebiet öffnet. Ich sehe großes Potenzial für
klinische Anwendungen.« Das DKFZ richtet deshalb in Kürze
einen eigenen Forschungsschwerpunkt für Krebsstammzellen
ein.

Entzündungen

sind im Grunde eine nützliche Reaktion des Körpers auf
ungesunde Reize. Diese sind eine Art Verletzung, die der
Organismus dringend beseitigen will. Das Reparaturset dafür
sind Stammzellen. Dort, an den Brandstellen, können sie sich
teilen und abgestorbenes Gewebe ersetzen. Weil aber
Stammzellen sehr langlebig sind, speichern sie auch genetische
Schäden durch Strahlung und Giftstoffe. Deshalb entarten diese
Reparatureinheiten gelegentlich. Die Zelle bekommt nicht mehr
mit, wann der Reiz abgeklungen ist und sie sich nicht mehr zu
teilen braucht. Ihre Gemeinde wächst einfach ungebremst
weiter.
Illustration: Phoebe Arns

Dass Stammzellen wirklich an diesen Prozessen beteiligt sind,
konnte JeanMarie Houghton von der Massachusetts Medical
School in Worcester demonstrieren. Die Molekularbiologin
infizierte Mäuse mit einem Magenkeim und zerstörte das
stammzellreiche Knochenmark der Tiere. Als Ersatz erhielten
die Nager markierte Knochenmarkszellen. 20 Wochen später
fand die Wissenschaftlerin diese Markierungen in der
Magenschleimhaut der Mäuse wieder. Der chronische
Entzündungsreiz hatte die Zellen durch die Blutbahn angelockt
- weil aber die Infektion weiter loderte, scheiterte das
Reparaturteam dort. »Diese Knochenmarkszellen versuchten,
das Gewebe zu heilen«, sagt Houghtons Kollege Timothy
Wang, »aber unter der chronischen Infektion konnten sie sich
nicht normal entwickeln und verwandelten sich deshalb in
Krebs.«

Aus der Entzündungsthese ergeben sich viele Möglichkeiten für
die Vorsorge und die Therapie. Mit massenhaften Hepatitis-B-
Impfungen konnte in bestimmten Regionen Asiens die
Magenkrebsrate um 50 bis 70 Prozent gesenkt werden:
Antibiotikakuren gegen Helicobacter Pylori halfen, die
Magenkrebsrate sinken zu lassen. Und eine Tablette Aspirin
jeden Tag, vermutet der Epidemiologe Randall Harris von der
State University in Ohio, könnte aufgrund ihrer
entzündungshemmenden Wirkung die Krebsraten um insgesamt
30 Prozent senken. Auch das Rheumamittel Vioxx, gerade vom
Markt genommen, erzielte im Experiment (bei Prostatakrebs)
eine positive Wirkung.

Aber selbst wenn alle Brandherde gelöscht sind, wird das Alter,
werden Strahlung und Zigarettenrauch trotzdem noch Zellen
bösartig mutieren lassen. Bis zum ausgewachsenen Tumor
jedoch müssen sich die Krebszellen diszipliniert vorarbeiten.
Zum Beispiel brauchen die wuchernden Tumoren viel Nahrung.
Und auch dafür nutzen sie vorhandene Strukturen.

Recycling

ist in der Natur ein weit verbreitetes Verfahren zur
Energiebeschaffung. Insofern überrascht es nicht, dass diese Art
der Materialverwertung auch in der Zelle stattfindet. In einem
ständigen Prozess der Selbstkannibalisierung, der Autophagie,
werden Eiweiße ab- und umgebaut. Dieser grüne Punkt der
Zellmaschinerie hilft dem Tumor über einen Engpass. Denn ab
einer gewissen Größe haben Tumorzellen ein Problem: Sie
brauchen viele Nährstoffe, sind aber aufgrund ihres
explosionsartigen Wachstums von der Versorgung über die
Blutbahnen zeitweilig abgeschnitten. Diese Lücke schließt die
Selbstverdauung verbrauchter Eiweiße, die in der Zelle
herumliegen.
Illustration: Phoebe Arns

Ist der Tumor ausgewachsen, sichert ihm die Autophagie das
weitere Überleben - indem sie ihn vor Angriffen schützt. Das
Recycling macht den Tumor nämlich resistent: Therapeutisch
verabreichte Chemotherapeutika und Strahlen zerstören
Zellbestandteile, diese werden abgebaut und wieder verwertet.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass man keine echte Heilung
bekommt, ohne die Autophagie zu berücksichtigen«, sagt
Tassula Proikas-Cezanne vom Institut für Zellbiologie in
Tübingen. Die Molekularbiologin hat gerade das zweite Protein
gefunden, das diese Autophagie reguliert. Noch aber ist unklar,
auf welche Weise sich die Selbstverdauung von außen gezielt
manipulieren lässt. Immerhin hat das Phänomen schon so viele
Wissenschaftler in Bann geschlagen, dass im Januar kommenden
Jahres eine neue Zeitschrift namens Autophagy auf den Markt
kommt.

Während der Nährstoffkrise ist für den Tumor wichtig, den
Kontakt zu den gesunden und kranken Nachbarn zu pflegen.
Eine rege Kommunikation ist Voraussetzung für das Überleben
im komplexen Organismus Mensch.

500 Schalter

steuern das komplizierte Miteinander der Gewebe. Sie
transportieren die Signale zur Teilung von der Zellhülle ins
Innere der Zellen, sie leiten den ständigen Strom an
Hormonbotschaften weiter, sie regulieren das
Gewebewachstum, und wenn etwas schief läuft, schalten sie
auch das Programm für den Zelltod an. Wer die Oberhand über
diesen Schaltkasten gewinnt, kann viel Unfug anrichten; im Fall
von Krebs geschieht genau das.
Illustration: Phoebe Arns

Die Wachstumsschalter, so genannte Tyrosinkinasen, haben
durch Mutationen einen Wackelkontakt. Sie stehen dauerhaft in
»An«-Stellung oder reagieren gar nicht mehr. Auf diese
entgleisten Zentralmoleküle zielen die Ärzte seit genau 20
Jahren - und neuerdings treffen sie auch. Die erste erfolgreiche
Blockade einer Tyrosinkinase gelang damals bei Brustkrebs.
Inzwischen greifen die Pharmaproduzenten mehr als 30 weitere
Ziele an. In den kommenden Monaten und Jahren werden viele
Tyrosinkinase-Therapien vorgestellt. Sie behandeln
Lungenkrebs, Magentumoren, Haut- und Nierenkrebs und viele
andere mehr. Der Erfolg ist mitunter erstaunlich: In einem
Drittel der Fälle ließ die experimentelle Substanz SU11248
beispielsweise Nierentumoren dramatisch schrumpfen. Und das
Mittel mit dem unaussprechlichen Namen Bevacizumab
vermochte in sonst völlig aussichtslosen Fällen von
Dickdarmkrebs mit Tochtergeschwulsten die mittlere
Überlebenszeit von 15 auf immerhin 20 Monate zu steigern -
bei überschaubaren Nebenwirkungen. Die Zulassung ist für
2006 geplant.

Bei Tyrosinkinase-Blockern wie Gleevec oder Iressa ist der
positive Effekt genauso wenig von langer Dauer. »Die
Krebszellen sind eben nicht statisch, es ist ein Ziel, das sich
bewegt und sich dauernd verändert«, sagt Axel Ullrich, der die
erste krebsauslösende Tyrosinkinase vor 20 Jahren entdeckt hat.
Ist ein Signalweg versperrt, weichen die mutierten Zellen auf
alternative Überlebensstrategien aus. »Daraus folgt, dass wir die
Zellen aus verschiedenen Richtungen angreifen müssen«, sagt
Ullrich. Gesucht ist ein Medikament oder eine Mischung, die
gleich mehrere Tyrosinkinasen angreift. Solche neuen
Kombipillen - Forbes nannte sie »die Schweizer Taschenmesser
der Medizin« - sind bei den Pharmafirmen Pfizer, Bayer,
Genentech, GlaxoSmithKline, Schering und Wyeth gerade in
den letzten Stadien klinischer Zulassungsstudien.

Derweil sucht Axel Ullrich nach weiteren verklemmten
Schaltern in Tumorgeweben. Gerade richtet er in der
Forschungsstadt Biopolis in Singapur eine Arbeitsgruppe ein,
die nichts anderes tut, als die Funktion von 120 Tyrosinkinasen
bei 250 Tumorarten zu testen. Dabei hoffen die Forscher, genau
die Schwachstellen zu finden, die bei einem Tumor spezifisch
verändert sind. »Ein Riesenprojekt«, sagt Ullrich, »in den
nächsten 10 bis 20 Jahren haben wir hoffentlich so viele neue
Waffen im Arsenal, dass wir für jede Situation den richtigen
Cocktail bereitstellen können.«


Die Amerikaner sprächen so gern vom »Kampf gegen den
Krebs«, sagt Dieter Hossfeld. Er habe für diese militaristische
Diktion nichts übrig. Der Krebs sei immer noch ein Teil des
Körpers. »Es geht nicht um einen Vernichtungsfeldzug, sondern
um Disziplinierung, es geht darum, die Zellen wieder auf den
richtigen Weg zurückzubringen.« Dabei könnten die neuen
Ansätze, in Kombination mit der Chemotherapie, helfen.

Die Aera aber wird der frische Emeritus Dieter Hossfeld nicht
mehr in der Klinik erleben. Und was hält er davon, in diesen
aufregenden Zeiten nicht mehr mitforschen zu dürfen? »Das ist
'ne Sauerei.«

aus DIE ZEIT vom 09.12.2004

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