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Tanja[a]

Freitag 21. Juni 2002, 02:01 Uhr

Gesundheit & Service «Als hätte man mir Scheuklappen angelegt»

Magdeburg (AP) «Es war, als hätte man mir Scheuklappen angelegt.» So schildert Gerhard H. seine Gefühle nach einem Hirninfarkt, bei dem er auf beiden Augen Teile seines Sehvermögens verloren hatte. Rechts und links sei plötzlich alles dunkel gewesen. Inzwischen sind die Scheuklappen wieder weg. «Ich sehe wie früher» sagt der Mann.

Möglich gemacht haben das Magdeburger Therapeuten, die inzwischen rund 400 teilerblindeten Patienten helfen konnten. Bereits Anfang der 90er Jahre begannen die Experten des Uniklinikums in der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt mit der Entwicklung eines Sehtrainings, das auf neuropsychologischer Forschung beruht und den Patienten hilft, die in Folge von Schlaganfällen, Hirntumoren oder schweren Kopfverletzungen an Gesichtsfeldausfällen leiden.

Nach mehrjähriger Forschung legte das Team unter Leitung von Professor Bernhard Sabel und Privatdozent Erich Kasten ein Verfahren mit Marktreife auf den Tisch. Es folgte die Gründung eines Sehzentrums, aus dem im Jahr 2000 die NovaVision AG - Zentrum für Sehtherapie hervorging.

Hier wurde auch Gerhard H. behandelt, dessen Heilungschancen bis dato als aussichtslos galten. Mit einer exakten Vermessung des Gesichtsfeldes wurden die Sehreste des Patienten ermittelt. Dazu musste Herr H. per Knopfdruck an den Computer zurückmelden, welche Lichtimpulse er registriert hat. So wurden die Grenzbereiche zwischen blindem und intaktem Gesichtsfeld gefunden und ein individuelles Computerprogramm entwickelt. Nach zweitägiger Untersuchung, die ohne jegliche Schmerzen verlief, konnte Gerhard H. wieder nach Haus, ausgerüstet mit einer Trainingsdiskette für den heimischen Computer.

«Das Visuelle RestitutionsTraining (VRT) mit aufeinander abgestimmter Software setzt auf die Fähigkeit des Gehirns zur Selbstreparatur», erklärt Dr. Gereon Boos, Vorstand der NovaVision AG. Im Sekundentakt leuchten auf dem schwarzen Monitor kleine Lichtpunkte auf, die direkt an jene Teile des Sehnervs und des Gehirn gelangen, die ausgefallen sind. Dort stimulieren sie die optische Wahrnehmung vor allem im Übergangsbereich zwischen geschädigten und gesunden Hirnregionen. Durch das wiederholte Reizen in Verbindung mit der Aufgabe, den Lichtpunkt zu erkennen und zu bestätigen, wird ein Lerneffekt erreicht. Die Restaktivität teilgeschädigter Nervenzellen im Gehirn wird gefördert. Gleichzeitig werden gesunde Nervenzellen zur Übernahme von Sehleistungen aus dem blinden Bereich angeregt. Das Sehen wird wieder möglich.

Der Erfolg hat allerdings seinen Preis: Der Patient muss üben, zwei Mal 30 Minuten täglich und mindestens sechs Monate lang. Hinzu kommt das regelmäßige Ausfüllen eines Protokolls. Nach jeder Sitzung registriert der Computer die Trainingsergebnisse. Monatlich müssen Diskette und Protokoll per Post oder E-Mail nach Magdeburg geschickt werden. «Stellen wir bei der Auswertung Fortschritte fest, wird das neue Programm entsprechend angepasst», erklärt Boos.

Psychologin Sigrid Kenkel verweist auf die zusätzlichen Effekte des Trainings gerade bei Patienten mit sehr wenig verbliebener Sehfähigkeit: Sie haben eine Aufgabe, können sich und ihrer Familie beweisen, dass sie sich mit ihrem Schicksal nicht einfach abfinden. Sie lernen, mit den verbliebenen visuellen Fähigkeiten besser umzugehen und sich auf diese verlassen zu können.

Jährlich erleiden knapp 500.000 Menschen in der Bundesrepublik Schlaganfälle, Schädel-Hirn-Traumen oder Hirntumore. Rund 20 Prozent der Betroffenen leiden anschließend an visuellen Wahrnehmungsstörungen, sehr häufig in Form von so genannten Gesichtsfeldausfällen. So gibt es beispielsweise die nach einem Schlaganfall häufig auftretende halbseitige Blindheit (Hemianopsie). Der Patient kann auf beiden Augen nur noch die linke oder die rechte Hälfte seiner Umgebung sehen. Bei der Quadrantenanopsie fällt ein Viertel des Gesichtsfeldes aus. Andere Patienten leiden unter einem Tunnelblick, bei dem nur noch im zentralen Teil des Gesichtsfeldes gesehen werden kann. Weiter gibt es inselartige Ausfälle, die so genannten Skotome.

«Bei 85 Prozent unserer Trainingspatienten hat sich das Sehen verbessert», berichtet Boos. Zehn bis 20 Prozent an Sehresten reichen seinen Angaben zufolge aus, um das Sehvermögen beträchtlich zu verbessern.

Inzwischen haben die Magdeburger 25 Kooperationspartner bundesweit sowie in Österreich und der Schweiz. Betroffenen Patienten ist es damit möglich, ortsnah behandelt zu werden.

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