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Katja[a]

Angehörige von Pflegebedürftigen brauchen Auszeiten

Nein, für Weihnachten hat Gisela Möllenberg noch überhaupt nichts organisiert. Es ist kurz vor Heiligabend, aber die Gunzenhäuserin wird es heuer zum ersten Mal nicht schaffen, auch nur ein einziges Geschenk zu besorgen. Denn die 62-Jährige ist buchstäblich am Ende. Aber es hätte trotzdem noch schlimmer kommen können. Denn wäre das Kurzzeitpflegeheim nicht, dann wüsste Gisela Möllenberg wahrscheinlich überhaupt nicht mehr weiter.

Es ist nur ein paar Wochen her, dass Gisela Möllenbergs (Name von der Redaktion geändert) Welt aus den Fugen geraten ist. Ihr 88-jähriger Vater starb völlig überraschend, ihre 87-jährige Mutter brach daraufhin vollkommen zusammen und ist seitdem zunehmend geistig verwirrt, wurde quasi über Nacht zum Pflegefall.

Als Angehöriger ist man, erzählt Gisela Möllenberg im Gespräch mit dem Altmühl-Boten, überhaupt nicht darauf vorbereitet, wird mit Sachen konfrontiert, von denen man überhaupt keine Ahnung hat. "Die eigene Mutter wird praktisch zu einem Kind", weiß die Gunzenhäuserin jetzt, doch dieses Wissen schützt sie immer noch nicht vor Überforderung. Denn es ist ein "Riesenberg", der auf sie wartet und ihr oft genug nachts den Schlaf raubt.

Dass es für viele Menschen ein richtiger Schock ist, wenn die eigenen Eltern - oder andere Angehörige - plötzlich zum Pflegefall werden, kann Martin Albrecht, der Geschäftsführer des evangelischen Krankenvereins und Leiter des Kurzzeitpflegeheims, bestätigen. Das Thema wird, weiß Albrecht, "weggeschoben", ist für viele ein Tabu. Wenn dann doch plötzlich ein Angehöriger zum Pflegefall wird, haben viele mit der Last der ungewohnten Verantwortung schwer zu kämpfen.

Auszeit für Angehörige

Hilfe und zumindest eine kurze Auszeit bietet hier das Kurzzeitpflegeheim des evangelischen Krankenvereins in der Leibnizstraße. Das weiß auch Heidi Gabriel (Name geändert). Sie besucht dort zur Zeit so oft wie möglich ihren Schwager. Vor 20 Jahren an einem Gehirntumor erkrankt, ist der heute 57-Jährige seitdem ein Pflegefall. Die ebenfalls 57-jährige Schwester von Heidi Gabriel hat sich all die Jahre um ihn gekümmert, Tag und Nacht. Denn einen Angehörigen zu Hause zu pflegen, das bedeutet eine "24-Stunden-Bereitschaft", erläutert Albrecht. Auch wenn man sich natürlich nicht tatsächlich 24 Stunden kümmern muss, muss man zumindest immer da sein. Es ist ein bisschen vergleichbar mit einem Kleinkind, das man auch nicht allein zu Hause lassen kann.

Angehörige, die pflegen, "geben sich auf". Diese Erfahrung machte Heidi Gabriel. Nicht leichter wird die Aufgabe sicher dadurch, dass viele Kranke nur noch ihre eigene Situation sehen, dass sie "zu Egoisten werden", wie es Heidi Gabriel formuliert.

Ihre Schwester hätte nach diesen 20 Jahren sicher Anrecht auf Urlaub. Doch dass ihr Mann jetzt die Möglichkeiten des Kurzzeitpflegeheims nutzt und sich gut eingelebt hat, liegt nicht daran, dass sich die 57-Jährige eine Auszeit gönnt. Im Gegenteil. Sie musste operiert werden, daher blieb einfach nichts anderes übrig. Heidi Gabriel hofft, dass diese erste - positive - Erfahrung mit der Einrichtung in der Leibnizstraße ihrer Schwester und ihrem Schwager den Mut gibt, das Angebot nun öfters zu nutzen, damit die Schwester auch einmal wieder etwas für sich selbst tun kann.

Viele haben Schuldgefühle

Genau das ist nämlich ein ganz großes Problem. Viele Angehörige leiden unter Schuldgefühlen, sobald sie sich selber etwas gönnen, und sei es nur eine Stunde in einem Café. Dabei sind diese Pausen unentbehrlich. Die psychische und physische Belastung für Angehörige von Pflegefällen ist enorm, hebt Albrecht hervor. Umso wichtiger ist es, dass sie nicht nur stundenweise Erholungsphasen bekommen, sondern auch einmal einen längeren Urlaub von der Pflege einlegen können. Dies sei nicht zuletzt nötig, um den Angehörigen auch weiterhin zur Pflege zu motivieren. Die dafür notwendigen entlastenden Dienste sind für Albrecht in Gunzenhausen "eigentlich noch Mangelware", das Kurzzeitpflegeheim mit seinen 16 Plätzen eher ein Tropfen auf den heißen Stein.

Die Leibnitzstraße ist offen für alle Pflegefälle. "Wir haben alle Altersklassen mit den verschiedensten Krankheitsbildern", berichtet die Krankenschwester Sandra Wild. Drei Wochen Kurzzeitpflege und weitere drei Wochen so genannte "Verhinderungspflege" (wenn also der Angehörige verhindert ist) übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr. Die Kassen zahlen dabei für zwei Mal drei Wochen 2864 Euro, täglich kommt ein Eigenanteil von 9,21 Euro dazu.

Derzeit ist das Kurzzeitpflegeheim komplett ausgebucht, wie eigentlich durchgängig seit Frühjahr. Das Angebot wird immer bekannter und immer besser angenommen. Wer einen Notfall hat, kann sich aber trotzdem jederzeit an die Einrichtung wenden, denn irgendwie findet das Team von Martin Albrecht immer noch einen Platz. Zumal Betten von heute auf morgen frei werden können, wenn beispielsweise für einen zu Pflegenden eine längerfristige Lösung gefunden wurde.

Eine solche wird auch noch für Birgit Weiß (Name geändert) gesucht. Die 88-Jährige lebte bis vor kurzem noch allein in ihrem Häuschen, das sie seit ihrer Geburt bewohnte. Doch heuer konnte sie das Öl und die Kohlen für ihre Öfen nicht mehr schleppen, sie hätte also nicht heizen können. Ein Nachbar erkannte das Problem und organisierte für Birgit Weiß den Platz im Kurzzeitpflegeheim.

"Daheim kennt man jeden Tritt"

Mittlerweile ist auch Birgit Weiß klar, dass sie wohl nie wieder in ihr Häuschen zurückkehren wird, dass sie einfach nicht mehr alleine leben kann. Wenn sie darüber redet, treibt es ihr die Tränen in die Augen, denn "daheim kennt man einfach jeden Tritt". Andererseits hat sie sich in der Leibnizstraße eingelebt, fühlt sich dort gut aufgehoben und versorgt. Doch sie wird nicht ewig bleiben können, und inwieweit sie einen neuerlichen Ortswechsel verkraften wird, weiß keiner.

Immer wieder gibt es Fälle, erzählt Schwester Sandra, bei denen klar ist, dass sie im Altersheim zugrunde gehen würden. Für sie ist Betreutes Wohnen, das in der Leibnizstraße ebenfalls angeboten wird, die beste Lösung. Dort können die Betroffenen genau so viel Selbstständigkeit leben, wie sie wollen - und können. Wem beispielsweise die tägliche Kocherei zuviel wird, kann auf das Angebot der Kurzzeitpflege (das Essen kommt von der Hensoltshöhe) zurückgreifen und täglich eine warme Mahlzeit erhalten. Allerdings ist die Entscheidung für Betreutes Wohnen natürlich auch eine finanzielle Frage.

Urlaub vom Alltag

Ob Unfallopfer oder Demenzkranker, ob frisch vom Hospital kommend oder seit Jahren in Pflege bei Angehörigen: Für alle ist das Kurzzeitpflegeheim nur eine Zwischenstation. Die meisten leben sich nach einer kurzen Eingewöhnungszeit gut ein, ja, empfinden den Aufenthalt in der Einrichtung sogar ein bisschen als Urlaub. Es ist eine Abwechslung zum normalen Alltag. Und es ist eine Chance, sagt Sandra Wild, neue soziale Kontakte zu knüpfen, beispielsweise bei den Bastelnachmittage.

Die examinierte Krankenschwester arbeitet seit eineinhalb Jahren in der Leibnizstraße und hat dort "gefunden, was ich immer gesucht habe". Denn im Gegensatz zum herkömmlichen Krankenhausbetrieb steht in der Kurzzeitpflege "weniger das Medizinische, sondern das Menschliche" im Vordergrund. Genau diesen Kontakt mit den Leuten sucht Sandra Wild.

Und dieser Kontakt ist es wohl auch, der die Pflegebedürftigen in der Regel von dem Angebot überzeugt und Angehörige dazu bringt, es wieder in Anspruch zu nehmen. "Vertrauen" ist laut Wild die Basis, und ist die erst einmal da, dann geben Angehörige ihre zu Pflegenden mit einem guten Gefühl in die Obhut von Sandra Wild und ihren Kolleginnen.

Auch Gisela Möllenberg weiß, dass ihre Mutter derzeit gut untergebracht ist und sich die 87-Jährige dort wohl fühlt. Dennoch wird auch Gisela Möllenberg für ihre Mutter eine dauerhafte Lösung finden müssen. Es wird wohl auf ein Altersheim hinauslaufen, denn die 87-Jährige selbst zu versorgen, dafür hat Gisela Möllenberg nicht mehr genügend Kraft.

Daneben muss sie noch die Wohnung von ihren Eltern auflösen und sich natürlich um den ganzen Behördenkram für ihre Mutter kümmern. Und bei all den großen Sorgen taucht auch noch jeden Tag die Frage auf, wie sie nur den Heiligen Abend organisieren soll.

MARIANNE NATALIS
23.12.2002

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