Anja[a]
Ärzte Zeitung, 06.03.2003
Die Hemmung von Thrombin ist offenbar für die Antitumor-Wirkung von Heparin entscheidend
Von Thomas Meissner
Antikoagulanzien können bei Krebspatienten mehr, als nur deren besonders hohes Thromboembolie-Risiko zu senken. Das wird schon lange vermutet. Bereits vor mehr als 70 Jahren ist berichtet worden, daß Tumorzellen nach Inkubation mit Heparin sich nicht mehr vermehren.
Die Ergebnisse einer Studie, die beim Jahrestreffen der American Society of Hematology (ASH) in Philadelphia im US-Staat Pennsylvania erstmals vorgestellt worden ist, untermauert jetzt die bisherigen Erkenntnisse über einen direkten Anti-Tumor-Effekt von Heparin - zumindest für Dalteparin, denn damit wurde die Studie gemacht: Werden Tumorpatienten kontinuierlich mit Dalteparin behandelt, hat dies einen lebensverlängernden Effekt.
Patienten erhielten ein Jahr lang subkutan Dalteparin
Der Chirurg Professor Ajay K. Kakkar vom Hammersmith Hospital in London und seine Kollegen hatten in der Studie FAMOUS (Fragmin Advanced Malignancy Outcome Study), einer doppelblind angelegten Untersuchung, 382 Patienten mit unterschiedlichen Karzinomen in fortgeschrittenem Stadium etwa ein Jahr lang täglich 5000 IE Dalteparin (Fragmin®) oder Placebo (physiologische Kochsalz-Lösung) subkutan spritzen lassen. Keiner der Patienten hatte bis zum Beginn der Studie eine Thrombose oder Embolie gehabt. Insgesamt überlebten die Patienten in der Dalteparin-Gruppe im Median elf Monate, Patienten der Placebo-Gruppe neun Monate. Dieser Unterschied war nicht signifikant.
Bei einer weiteren, zunächst nicht geplanten Analyse der Daten entdeckten die Forscher aber, daß bei jenen 100 Patienten, die in beiden Gruppen länger als 17 Monate überlebten, also eine relativ gute Prognose hatten, die Dalteparin-Behandlung für fast eine Verdopplung der medianen Überlebenszeit von 24 Monaten unter Placebo auf 43 Monate sorgte. 77 Prozent der Patienten in der Verum-Gruppe lebten noch nach zwei Jahren, unter Placebo waren es lediglich 59 Prozent.
Bemerkenswert an der FAMOUS-Studie ist, daß es in beiden Studiengruppen keine Unterschiede bei der Zahl symptomatischer Thrombosen gegeben hat: sie lagen zwischen zwei und drei Prozent. Welchen Grund gab es dann für die deutlich längere Überlebenszeit in der mit niedermolekularem Heparin (NMH) behandelten Gruppe? Ein mögliche Antwort: Das NMH hat direkte Antitumor-Wirkungen, die - nach den Analysen bei den Patienten mit relativ guter Prognose - erst bei längerer Anwendung klinisch erkennbaren Nutzen bringt.
Offenbar mißbraucht die bösartige Geschwulst das Gerinnungssystem, um sich im Körper weiter auszubreiten. "Das Hämostase-System scheint für den komplexen Prozeß der Metastasenbildung essentiell zu sein", so Professor Erhard Hiller und Dr. Rudolf Pihusch aus München (Arzneimitteltherapie 19, 2001, 349). So brauchen die Krebszellen etwa Fibrin als Klebstoff, um sich an die Wand der Blutgefäße heften und in andere Gewebe wandern zu können. Die Fibrinbildung werde direkt von der malignen Zelle ausgelöst, so Hiller und Pihusch. Zudem bewirkt die Aktivierung des Hämostase-Systems eine vermehrte Freisetzung des Enzyms Thrombin. Thrombin wiederum fördert direkt das Tumorwachstum.
Die Hemmung von Thrombin durch Heparin ist offenbar für den direkten Anti-Tumor-Effekt entscheidend. NMH sind dabei wohl den unfraktionierten Heparinen (UFH) nicht nur wegen der besseren Pharmakokinetik und Bioverfügbarkeit den UFH überlegen, sondern NMH können auch die Gefäßneubildung des Tumors hemmen. Es gibt Hinweise aus In-vitro-Experimenten, daß dafür auch die Kettenlänge des Heparin-Moleküls von Bedeutung ist: Je kleiner die Heparinfragmente sind, desto stärker ist die Angiogenese-Hemmung. Daher würden derzeit auch sehr kleine Heparin-Fragmente ohne antikoagulatorische Wirkung untersucht, so Hiller.
Ferner haben auch retrospektive Analysen mehrerer Thrombose-Studien Hinweise dafür gebracht, daß eine Therapie mit NMH für Tumor-Patienten größeren Nutzen haben kann als eine Therapie mit UFH. Schaut man sich nämlich von den teilnehmenden Thrombose-Patienten nur die Tumorpatienten an, fällt auf, daß mit NMH behandelte Patienten signifikant länger leben als mit UFH therapierte Patienten.
Tumor und Gerinnung schaukeln sich gegenseitig hoch
Ob dies auf Unterschiede in der Antitumor- oder in der Antithrombose-Wirkung zurückzuführen ist, ist letzlich gleich. Soviel ist jedenfalls klar: Tumor und Gerinnung schaukeln sich in fataler Weise gegenseitig hoch. Und: Hier kann mit einer Arzneimitteltherapie eingegriffen werden.
FAZIT
Das Wissen um die Zusammenhänge zwischen Gerinnung, Tumorwachstum und Metastasierung eröffnet neue Möglichkeiten der Krebstherapie. Außer für Heparine gibt es auch für andere Antikoagulanzien wie Acetylsalicylsäure, Vitamin-K-Antagonisten oder Ticlopidin Hinweise auf tumorhemmende Effekte. Obwohl die äußerst komplexen Vorgänge noch nicht ganz verstanden werden: Für Ärzte bedeuten diese Forschungsergebnisse jetzt schon, daß die Thromboseprophylaxe ein wichtiger, gegebenenfalls sogar lebensverlängernder Aspekt der Krebstherapie ist.