Monique[a]
Stadt und Kreis Tübingen / 22.05.2002
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Balanceakt auf dem Pferderücken
Seit zehn Jahren therapiert Gabi Schreiber aus Ofterdingen kranke Kinder mit heilpädagogischem Reiten
Ofterdingen. (vit) »Jetzt streck´ die Hände in die Höhe. Du schaffst es.« Und Selina schafft es. Die Siebenjährige aus Höfendorf bei Rangingen kniet freihändig auf einem Pferd aus dem Stall der Ofterdinger Reitpädagogin Gabi Schreiber, reckt die Arme weit in die Luft und strahlt übers ganze Gesicht.
Nach einer Gehirnoperation macht die siebenjährige in der Reittherapie bei Gabi Schreiber große Fortschritte.
Vor Monaten war dies noch ganz anders. Nach einer Gehirnoperation hatte das Mädchen kaum noch ihre Umwelt wahrgenommen und nicht mehr sprechen können. Der Leidensweg Selinas reicht weit zurück. Mit zweieinhalb Jahren hatte sie plötzlich epileptische Anfälle. Die Familie reiste von Klinik zu Klinik, aber niemand konnte dem Kind helfen. Die Anfälle wurden schlimmer. Erst die Ärzte einer Spezialklinik in Bielefeld entdeckten die Ursache und stellten eine niederschmetternde Diagnose: Gehirntumor direkt am Sprachzentrum.
Die Operation kam gerade noch rechtzeitig. Ein halbes Jahr später, so sagten die Ärzte damals, wäre das Mädchen an seiner schweren Erkrankung gestorben. Nach dem Eingriff begann für das Kind »ein neuer Lebensabschnitt«, wie Selinas Mutter Ursula Behrendt heute erzählt. Das Mädchen musste alles neu erlernen. »Selina konnte fast nichts erkennen, nur schwer das Gleichgewicht halten und hat kaum etwas gefühlt«, sagt die Mutter im Rückblick auf die schwere Zeit.
Ausmisten gehört zur Therapie
Mit logopädischer Hilfe und Ergotherapie besserte sich langsam der Zustand, der große Durchbruch aber kam mit dem heilpädagogischen Reiten bei Gabi Schreiber auf dem Ofterdinger Heimgartenhof. »Selina hat unwahrscheinlich aufgeholt«, freut sich Ursula Behrendt. Ihre Tochter sei offener geworden, gehe mehr aus sich heraus, traue sich viel mehr zu, die Angstzustände seien weg, und »auch sprachlich geht es vorwärts«. Von Gleichgewichtsstörungen kann keine Rede mehr sein, wie der Balanceakt auf dem Pferd beweist.
Seit zehn Jahren ist Gabi Schreiber auf dem Heimgartenhof von Helmut Lutz am Rande Ofterdingens als Therapeutin tätig. Die gelernte Erzieherin arbeitete zuvor acht Jahre auf einer Jugendfarm vor den Toren Stuttgarts. »Das war ein betreuter Abenteuerspielplatz mit vielen Tieren, um den Kindern zu zeigen, wo die Wolle herstammt und dass die Eier nicht vom Supermarkt kommen«, erzählt Schreiber. In der Schweiz ließ sich die Erzieherin 1989 für heilpädagogisches Reiten ausbilden. Zurück in Deutschland zog sie mit sieben Pferden von Hof zu Hof.
»Aber überall wurde ich nur mitleidig belächelt«, berichtet Schreiber heute. Keiner nahm offensichtlich die Reittherapie ernst. Erst der Ofterdinger Helmut Lutz nahm sie auf, sorgte mit Reitplatz und Stall für die notwendigen Rahmenbedingungen. Heute ist der Heimgartenhof ein Vorzeigebetrieb, weil er es verstanden hat, sich neben der (kriselnden) Landwirtschaft ein zweites Standbein zu schaffen. Inzwischen hat Gabi Schreiber 28 Pferde. Und ihre heilpädagogische Arbeit mit Problemkindern und behinderten Erwachsenen ist längst weit über Ofterdingen hinaus anerkannt.
Schreiber arbeitet eng mit der Universitätsklinik in Tübingen und der Gustav-Werner-Stiftung in Reutlingen zusammen. Derzeit betreut sie 20 Kinder und Jugendliche mit psychischen und physischen Problemen.
Die Therapie für Kinder ab vier Jahre dauert sechs Monate bis zwei Jahre. »Es ist erstaunlich, was die Tiere bewirken«, sagt Schreiber. Wenn die Patienten zu ihr kommen, sucht sie zuerst das geeignete Pferd aus. Ist ein Kind ängstlich und unsicher, erhält es ein ruhiges Pferd. Es darf das große Tier streicheln, an der Leine führen und sich schließlich auf den Pferderücken setzen. Schreiber: »Das Kind wird immer mutiger, sein Selbstbewusstsein steigt.«
Innerhalb kurzer Zeit stellen sich erste Erfolge ein. Das Gleiche gelte auch für sehr hektische oder rücksichtslose Kinder. »Die Pferde sind sehr direkt, sie zeigen dem Kind, was Sache ist, und dass es so nicht geht«, weiß Schreiber. Und aus den lauten Kindern werden ruhige. »Das funktioniert aber nur, wenn Interesse für die Pferde da ist«, sagt Schreiber.
Zur Therapie gehört nicht nur der direkte Kontakt mit den Tieren. Die Kinder und Jugendlichen müssen auch im Stall helfen, ausmisten, sauber machen und die Pferde bürsten. Dadurch wird die Feinmotorik der Patienten geschult und deren Fertigkeiten gezielt trainiert. So hat Schreiber beispielsweise erlebt, dass bei einem spastischen Kind, die Hände aufgehen, wenn es den Schweif eines Pferdes verliest. Und wenn es dem Pferd zur Belohnung den Eimer mit Hafer hinhält und dem Druck des Tieres standhält, kräftigt es die Muskulatur.
Das heilpädagogische Reiten wird häufig dann eingesetzt, wenn andere Therapieformen nicht mehr weiterhelfen. Die Behandlung mit Pferden zeigt Erfolge bei Autisten, bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, bei Wahrnehmungsstörungen, Lern- und geistiger Behinderung oder bei Kommunikations- und Beziehungsproblemen.