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Jörg[a]

Bremse für die Tumorzelle

Killermoleküle sollen das Wachstum aggressiver Krebszellen im Kopf bremsen - eine neue Therapie für Todkranke

Die winzigen Moleküle sollen den wuchernden Krebszellen den Todesstoß versetzen. Sie verhindern die Produktion eines für den schnell wachsenden Tumor (Glioblastom) notwendigen Überlebensfaktors. Ohne diese Unterstützung verliert der bösartigste aller Hirntumoren seine Aggressivität, stellt sein Wachstum ein - und der Patient überlebt.
So stellte sich der Arzt und Wissenschaftler Karl-Hermann Schlingensiepen vor zehn Jahren in der Theorie die Wirkung seines Killermoleküls vor, jetzt wurden die ersten 27 schwer kranken Gliom-Patienten behandelt, 23 von ihnen in der Universitätsklinik Regensburg. Schlingensiepen, mittlerweile Vorstand der Biotechfirma Antisense Pharma, weiß nun, dass seine Idee damals richtig war. Insgesamt schlug das neue Therapieprinzip bereits in ersten Studien bei einigen Patienten so gut an, dass "echte Hoffnung berechtigt ist".

"Patienten aus der ganzen Welt rufen bei uns an", freut sich Schlingensiepen. An der vor einigen Wochen in West- und Osteuropa sowie Indien und Israel gestarteten Phase-II-Studie sind 22 Zentren beteiligt. 150 Patienten sollen behandelt werden - viele davon auch in Deutschland -, um die optimale Dosis zu bestimmen sowie Therapieerfolge zu dokumentieren. Es kommen Patienten in Frage, bei denen nach der ersten Therapie der Tumor wiedergekehrt ist und die in gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand sind. Dies schreiben die Ethikrichtlinien vor.

Mit der Zulassung als Medikament rechnet Schlingensiepen ab 2005. Denn in den USA und der Europäischen Union erleichtern die Behörden die Zulassung, um eine dringend benötigte Therapie bei seltenen Krankheiten schneller zu ermöglichen. Den so genannten Orphan Drug Status erhielt das Mittel der Regensburger Biotechfirma im vergangenen Frühjahr. "Unsere Patentsituation in den USA, Japan und Europa ist sehr gut", beschreibt Reimar Schlingensiepen als Geschäftsführer von Antisense Pharma die Situation und möchte damit klar machen, dass auch kleine Pharmafirmen "Großes bewegen können".

Bösartig und meist tödlich
. Das Glioblastom ist die gefährlichste Form des Gehirntumors. In Deutschland erkranken daran jährlich 5000 Menschen.
. Innerhalb weniger Wochen kann der Tumor pflaumengroß werden. Symptome: Kopfschmerzen, Lähmungen, Krampfanfälle.
. Die Überlebenszeit beträgt trotz Operation, Chemotherapie und Bestrahlung im Durchschnitt nur 46 Wochen

Etwa 5000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland an einem Glioblastom. Selbst die beste Therapie mit Operation, Chemotherapie und Bestrahlung kann das Leben der Patienten nur um durchschnittlich 46 Wochen verlängern. Ohne Therapie sterben die Kranken im statistischen Mittel nach 24 Wochen.

Ein Patient aus der Regensburger Antisense-Studie lebt jetzt bereits mehr als zwei Jahre, und alle Tumorreste und Metastasen sind verschwunden. Bei weiteren sieben erstmals in einer Studie Behandelten ist das aggressive Wachstum der Tumoren zum Stillstand gekommen. "Wir waren richtig erstaunt, dass diese kurze und einmalige Applikation so viel bewirkt", erzählt Peter Hau, Prüfarzt am Bezirkskrankenhaus der Universität Regensburg.

Die rettende Lösung aus etwa einer Billion Killermolekülen wird über mehrere Tage mit einem Katheter direkt in den Gehirntumor gepumpt. Diese schleichen sich langsam in die Krebszellen und bremsen dort über einige Wochen die Produktion des schädlichen Wachstumsfaktors TGF-beta.

Das neue Wirkprinzip dieser Therapie nennt sich Antisense, was etwa Gegensinn bedeutet. Antisense-Moleküle sind genau spiegelbildlich zu der TGF-beta-Bauanleitung zusammengesetzt und blockieren auf molekularer Ebene die Herstellung von TGF-beta in der Zelle. Die Antisense-Moleküle wirken über drei verschiedene Mechanismen: Das Tumorwachstum wird gebremst, gleichzeitig die körpereigene Immunabwehr gegen den Tumor gestärkt sowie die Auswanderung von Tumorzellen gehemmt.

Die neuen Antisense-Moleküle sollen über einen molekularen Mechanismus auf drei Ebenen wirken: Sie bremsen das Tumorwachstum, stärken die körpereigenen Abwehrzellen im Kampf gegen die Krebszellen und hemmen die Bildung von Metastasen.

Wie ein Schutzwall sind die Gehirntumorzellen von dem Wachstumsfaktor TGF-beta umgeben (rot), den sie selbst in großen Mengen produzieren. So teilen sich die Krebszellen und vermehren sich unaufhaltsam. TGF-beta lähmt die körpereigenen Immunzellen, die den Krebs bekämpfen können.

Die Lösung mit etwa einer Billion Molekülen wird direkt in den Gehirntumor gespritzt. Die Krebszellen nehmen die Killermoleküle auf. Diese heften sich an die genau spiegelbildlich aufgebaute Bauanleitung für den Wachstumsfaktor TGF-beta. Wie eine Bremse verhindert das Antisense-Molekül die weitere Produktion des Tumorlebenselixiers. Ohne TGF-beta verkümmern die Tumorzellen, gleichzeitig können Immunzellen angreifen.

"Antisense-Moleküle sind bisher völlig untoxisch und ohne dramatische Nebenwirkungen", erklärt der Regensburger Neurologe Ulrich Bogdahn, der als Leiter der klinischen Studie die ersten Patienten "rund um die Uhr" beobachtete. Kontinuierlich steigerten die Ärzte die Dosis, um einen noch heilsameren Effekt zu erzielen. "Wir gehen sehr vorsichtig vor, denn immerhin geben wir den Patienten jetzt etwa das 100fache der Anfangsdosis", betont Schlingensiepen.

Die Effekte auf den Tumor werden im Kernspintomogramm allerdings erst nach etwa vier Wochen sichtbar. Tumormasse und Ödeme sollten verschwinden, wenn die Immunreaktion beginnt.

Auch bei anderen Krankheiten setzen Forscher mittlerweile auf die Killermoleküle: Die US-Biotechnikfirma EpiGenesis plant erste klinische Studien bei Asthmakranken. Antisense Pharma will etwa in einem Jahr erste Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, Bronchialkarzinom und Dickdarmkrebs behandeln.

Gaby Miketta


FOCUS, Heft 13 vom 24 März 2003

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