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Der Pflegefall ist quicklebendig

Diagnose: Hirntumor. Ursula Siebers (53) hat nach zwei Operationen wieder sprechen, lesen und schreiben gelernt. Sie plädiert für ein selbstständiges Leben mit Behinderung und sucht jetzt Gleichgesinnte.

Ursula Siebers unterscheidet die Menschen durch deren Stimme, Statur und Kleidung, "Gesichter kann ich nicht mehr erkennen", sagt die 53-Jährige. Sie fährt kein Auto mehr und kein Fahrrad, und einmal, beim Stadtbummel, "bin ich durch eine geschlossene Glastür gegangen". Sie bemerkte die durchsichtige Hürde nicht, die dabei zu Bruch ging. Abgesehen von einer Beule am Kopf kam Ursula Siebers mit dem Schrecken davon. Lachend erzählt sie von diesem Unfall. Er gehört einfach zu ihrem Leben mit Behinderung, das sie, wie sie sagt, gut organisiert hat. Mittlerweile jedenfalls. Vor gut vier Jahren geriet die 53-Jährige völlig aus der Bahn. In ihrem Gehirn wuchs ein Tumor.

Ständig Kopfschmerzen

Die Krankheit machte sich durch ständige Kopfschmerzen und zeitweises Aussetzen der Sehkraft bemerkbar. "Ich konnte Sätze nicht zu Ende sprechen, war nicht mehr in der Lage, mir Telefonnummern zu merken und Nummern zu wählen." Ein halbes Jahr lang ging das so, sie hoffte, dass die Symptome wie von Zauberhand wieder verschwinden. Aber ihr Zustand verschlimmerte sich, schließlich brachten ihre Mutter und ihr Bruder sie ins Krankenhaus. Die Diagnose war schnell klar: Ein Gehirntumor, "groß wie eine aufgeblühte Rose", wuchs rechts hinten in ihrem Kopf. Auf der linken Seite hatte sich gleichzeitig eine Hirnblutung gebildet. Das Geschwulst war zwar gutartig, drückte aber auf die gesunden Zellen und drohte andere Hirnbereiche einzuklemmen.

Gisela Siebers wurde zwei Mal operiert. Nach den Eingriffen war nichts mehr wie früher: Ihren Beruf als Diplom-Psychologin kann sie nicht mehr ausüben, sie bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente. An simplen Rechnungen wie 90 plus vier scheiterte sie, sie konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen. Im Krankenhaus habe man sie abgeschrieben als Pflegefall, der nie wieder selbstständig leben wird. Da kannte das medizinische Personal Gisela Siebert aber schlecht. Sie holte sich Hilfe beim Logopäden, begann, wieder sprechen, lesen und schreiben zu lernen, konnte sich der Hilfe durch Familie und Freunde gewiss sein.

"Noch ganz viel erreichen"


"Ich wollte noch ganz viel erreichen", beschreibt sie ihren inneren Antrieb. Zum Beispiel wieder in der Lage sein, eine Seekarte zu lesen é was jetzt noch nicht möglich ist. Wann immer Gisela Siebers vor der Krankheit Zeit hatte, fuhr sie Richtung Holland, wo sie mit einem Segelboot in See stach. Damals begleitete sie ihr langjähriger Freund. Er verließ sie, als sie krank wurde. Punkt. Mehr will Gisela Siebert heute dazu nicht mehr sagen. Ihre Erfahrung: "Eine Beziehung funktioniert, wenn Gleichheit zwischen den Partnern herrscht. Nicht, wenn absehbar ist, dass der eine den anderen mehr braucht."

Auch deshalb will Gisela Siebert eine Selbsthilfegruppe gründen, "in der man auch aufgefangen wird". Arbeitstitel: "Selbstständiges Leben nach dem Hirntumor". Sie sei jetzt soweit, an die Öffentlichkeit zu gehen, will Erfahrungen austauschen mit anderen Betroffenen und deren Angehörigen. Denn der Rückzug ins stille Kämmerlein ist Gisela Sieberts Sache nicht. "Ich definiere mich lieber über mein Lachen als über meinen Schwerbehindertenausweis."

NRZ 29.07.2002 SUSANNE STORCK

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