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Thema: Presse: Die Rückkehr von Contergan in der Tumortherapie

Presse: Die Rückkehr von Contergan in der Tumortherapie
Anne[a]
31.01.2005 17:04:55
Spiegel 43/2004


Medizin: Die Rückkehr von Contergan in der Tumortherapie

von Veronika Hackenbroch, Erich Wiedemann

Dem Tumor den Saft abdrehen

Das Horrormedikament Contergan, das einst Tausende Kinder im Mutterleib
verstümmelte, erlebt ein Comeback: als Mittel gegen Krebs. Pharmafirmen
wittern ein großes Geschäft.

Noch im Dezember 2001 sah es schlecht aus für den damals 51jährigen
Krebspatienten aus der Nähe von Dresden. Der Mann litt an einer seltenen
Form von Blutkrebs, dem so genannten multiplen Myelom. Bösartige Zellen
hatten sich in seine Knochen eingenistet und waren dabei, sie langsam zu
zersetzen. Ein Rückenwirbel war bereits zusammengestürzt. Der Mann litt
unter schrecklichen Schmerzen.

"Wir wussten nicht mehr weiter", erinnert sich Ralph Naumann, Oberarzt
am Universitätsklinikum Dresden, wo der Mann behandelt wurde. "Es stand
auf Messers Schneide."

In dieser Situation beschlossen die Ärzte, mit einer ungewöhnlichen
Therapie zu beginnen: Sie verabreichten das Schlafmittel Thalidomid,
besser bekannt unter dem Markennamen Contergan - genau jenes Medikament, das vor gut 40 Jahren die schlimmste Arzneimittelkatastrophe in der Geschichte der modernen Medizin ausgelöst hatte.

Rund 3000 Kinder waren damals mit fehlenden oder verstümmelten Armen und Beinen oder missgebildeten Organen auf die Welt gekommen; und etwa 7000 Föten starben noch im Mutterleib. Ihre Mütter hatten im ersten Drittel der Schwangerschaft Contergan eingenommen. Das Mittel galt, obwohl kaum getestet, als harmlos und wurde fatalerweise nicht nur gegen
Schlaflosigkeit, sondern auch gegen Morgenübelkeit verordnet.

Seither gilt Thalidomid als das Horrormedikament schlechthin - und
verschwand für Jahrzehnte weitgehend von der Bildfläche. Lediglich als
Mittel gegen schmerzhafte Hautveränderungen bei Lepra machte es später
noch von sich reden; auch dabei kam es wieder zu Schädigungen bei
Neugeborenen.

Doch nun könnte Contergan vor einem überraschenden Comeback stehen: als Mittel gegen Krebs. Erprobt wird es derzeit gegen Prostata- und
Nierenkrebs und eine bestimmte Form des Hirntumors. Vor allem aber wirkt
es offenbar gegen das multiple Myelom. "Ich mag zwar das Wort
Wundermittel nicht", sagt der Krebsspezialist Naumann, "aber die Erfolge
sind enorm."

Auch bei seinem Dresdner Patienten zeigte Thalidomid durchschlagenden
Erfolg. Der Mann nahm das Mittel zweieinhalb Jahre lang, seither scheint
seine bösartige Krankheit unter Kontrolle. "Das ist sehr, sehr
erfreulich", urteilt Naumann. "Ich bezweifle, dass es dem Patienten ohne
Thalidomid heute so gut ginge."

Auch eine ganze Reihe von Studien bestätigen inzwischen diesen
Therapieerfolg. Bei Patienten mit multiplem Myelom, die nach einer
Chemotherapie einen Rückfall erlitten hatten, konnte Thalidomid in etwa
einem Drittel der Fälle den Krebs ein weiteres Mal zurückdrängen - und
das bei einer Erkrankung, die bislang als unheilbar gilt und bei der es
nach jedem Rückfall schwieriger wird, den Krebs ein weiteres Mal in
seine Schranken zu weisen.

Die Wirkung ist so gut, dass inzwischen getestet wird, ob Thalidomid
möglicherweise sogar als Mittel der ersten Wahl einsetzbar ist. In
Kombination mit einem Cortisonpräparat, so das Ergebnis erster Studien,
kann Thalidomid bei etwa 60 Prozent der Patienten die Krebserkrankung
fürs Erste zum Stillstand bringen.

Doch Thalidomid hat heftige Nebenwirkungen. Es könne, so Hartmut
Goldschmidt, Krebsforscher an der Universität Heidelberg, neben starker
Müdigkeit zu Thrombosen, verlangsamtem Herzschlag, schmerzhaften
Hautreaktionen und vor allem zu toxischen Nervenschäden führen. Ein
nicht unerheblicher Teil der Patienten muss das Medikament deshalb nach
einiger Zeit wieder absetzen - auch Naumanns Patient beendete vor etwa
drei Monaten die Einnahme.

Durch ein aufwendiges Sicherheitsprogramm muss zudem sichergestellt
werden, dass es bei Thalidomid-Patientinnen nicht zu einer
Schwangerschaft kommt. Und männliche Patienten müssen strikt dazu
verpflichtet werden, beim Sex Kondome zu benutzen - Thalidomid könnte
über die Samenflüssigkeit in den Körper der Partnerin gelangen.

Makabrerweise spricht dabei vieles dafür, dass genau jener
Wirkmechanismus, der Arme und Beine der Contergan-Geschädigten in der
frühen Schwangerschaft am Wachsen hinderte, zugleich dazu beiträgt,
Krebszellen in Schach zu halten. Thalidomid hemmt, neben anderen
Wirkungen, offenbar das Wachstum von Blutgefäßen: jener Gefäße, die die
knospenden Arme und Beine des Embryos mit Blut versorgen - aber eben
auch jener Gefäße, mit denen ein bößsartiger Tumor sich ernährt.

Jahrelang hatten Krebsforscher davon geträumt, mit einem solchen
"Angiogenesehemmer" einem Tumor quasi den Saft abzudrehen. Doch der
Traum blieb Theorie - bis Forscher am Children´s Hospital in Boston 1994
in einem Experiment erstmals die Angiogenese hemmende Wirkung von
Thalidomid an den Blutgefäßen einer Kaninchennetzhaut erkannten.

Ein normales Medikament ist Thalidomid wegen seiner Geschichte für
niemanden, der heute damit hantiert - schon gar nicht für den Arzt Ralph
Naumann: Er hat selbst eine Contergan-Behinderung an den Armen, die
allerdings nur leicht ausgeprägt ist.

Naumann kann sich noch gut erinnern, wie es war, als er zum ersten Mal
einen Patienten mit Thalidomid behandelte. Das Medikament hatte sein
Leben geprägt. Nun sollte er es einsetzen, um das Leben eines anderen
Menschen zu retten. Das kostete ihn Überwindung.

Viele Contergan-Geschädigte sind gespalten, was die Rückkehr von
Thalidomid betrifft. Einerseits will niemand von ihnen Todkranken ein
möglicherweise lebensverlängerndes Medikament vorenthalten. Andererseits aber widerstrebt es manchen, dass mit Thalidomid jetzt wieder Geld verdient wird.

Zwar laufen die Geschäfte noch nicht so gut wie ehedem: Grünenthal
verkaufte Ende der fünfziger Jahre rund 20 Millionen Pillen im Monat.
Dennoch, sagt Klaus Wilsmann, heute Medizinischer Direktor bei
Grünenthal, "haben einige Firmen wieder den kommerziellen Charme von
Thalidomid entdeckt".

Grünenthal selbst bleibt dabei außen vor: Das Unternehmen ging eine
Selbstverpflichtung ein, nie wieder mit Thalidomid Profite zu machen.
Mitte der neunziger Jahre begann dann aber in den USA die auf
Krebstherapie spezialisierte Pharmafirma Celgene, das Mittel, auf das
kein Patentschutz mehr besteht, erneut herzustellen und zu erproben.

Zugelassen ist es bislang nur für die Behandlung von Leprakranken. Doch
auch Krebspatienten können, im Rahmen so genannter individueller
Heilversuche, relativ problemlos mit Thalidomid versorgt werden. Sogar
zur Erstbehandlung des multiplen Myeloms wird Thalidomid in den USA
inzwischen immer häufiger verschrieben. Im Jahr 2003 machte Celgene mit
dem neuen alten Medikament bereits 180 Millionen Dollar Umsatz.

Angestachelt von diesem Erfolg beginnt nun auch in Europa wieder das
Geschäft mit Contergan. Bis vor einem guten Jahr noch gab hier in den
meisten Ländern Grünenthal das Medikament kostenlos an alle Ärzte ab,
die bei einem Krebspatienten einen individuellen Heilversuch vornehmen
wollten. Dazu wurden bei Grünenthal die 40 Jahre alten Restbestände der
Substanz zu neuen Tabletten gepresst.

In fast ganz Europa erhielten in den vergangenen vier Jahren zwischen
2000 und 3000 Patienten Thalidomid von Grünenthal. Ärzten, Patienten und
Krankenkassen gefiel diese Regelung gut. "Das war wirklich ausgesprochen
einfach und angenehm", sagt Marcel Reiser, Onkologe am
Universitätsklinikum Köln. Der Nachteil: An einer systematischen
wissenschaftlichen Auswertung der Behandlungsversuche war Grünenthal
nicht interessiert.

Das rächt sich jetzt: Als die Vorräte zur Neige gingen und Grünenthal
erfuhr, dass die Firma Pharmion - ein Lizenzunternehmen von Celgene -
bei der europäischen Arzneimittelbehörde einen Zulassungsantrag für
Thalidomid zur Behandlung des multiplen Myeloms gestellt hatte, wurde
die kostenlose Abgabe beendet.

Seitdem sitzt ein Teil der Thalidomid-Patienten auf dem Trockenen.
Polnische Krebspatienten etwa werden nach Angaben der Ärzte gar nicht
mehr mit Thalidomid behandelt. Von den 200 Patienten an der
Universitätsklinik Danzig und weiteren 100 in Lublin war bei etwa einem
Drittel die Krankheit rückläufig. Nun sind die Symptome bei fast allen
wieder da.

Auch die Behandlung deutscher Patienten ist schwieriger geworden. Denn
der Zulassungsantrag von Pharmion musste - wegen unzureichender Daten -
vorerst zurückgezogen werden. Die notwendigen Studien für einen neuen
Antrag werden voraussichtlich zwei bis drei Jahre dauern.

Zwar besteht trotzdem die Möglichkeit, Thalidomid im Rahmen eines
individuellen Heilversuchs für mehrere hundert Euro im Monat von der
Firma Pharmion zu beziehen - aber nicht selten auf eigene Kosten, denn
einige Krankenkassen weigern sich zu zahlen. Da die Zulassung für
Thalidomid noch fehlt, andererseits aber im Mai 2004 der Wirkstoff
Bortezomib gegen das multiple Myelom die Zulassung erhalten hat, dürfen
die Krankenkassen Thalidomid gar nicht mehr ohne weiteres bezahlen.

Finanziell wie medizinisch allerdings ist dieses Vorgehen fragwürdig -
denn Bortezomib ist erheblich teurer als Thalidomid; und ob Patienten
nach einer gescheiterten Bortezomib-Therapie überhaupt noch auf
Thalidomid ansprechen, ist bislang noch nicht ernsthaft untersucht worden.

Eine Leidtragende dieser Praxis ist Karin S. aus Niedersachsen. Vier
Chemotherapien hatte sie bereits hinter sich, als sie vor vier Wochen
das erste Mal Thalidomid erhielt. Bislang war es stets so gewesen, dass
der Krebs schon kurz nach einer Chemotherapie wieder da war - doch
diesmal scheint ihr Zustand endlich stabil. Einziges Problem: Die
Krankenkasse zahlt nicht. Für die bisherigen Behandlungskosten von 2400
Euro kam ihr Mann auf. "Doch jetzt", sagt er nach der Ablehnung durch
die Krankenkasse, "weiß ich nicht mehr, wie es weitergehen soll."

"Die Verzweiflung ist groß bei denen, die es nicht bekommen", sagt auch
Jörg Brosig, der selbst am multiplen Myelom erkrankt ist, selbst
dreieinhalb Jahre lang Thalidomid einnahm und eine Selbsthilfegruppe
gegründet hat. Irgendwann aber, davon sind fast alle Krebsärzte
überzeugt, werde sich Thalidomid durchsetzen - oder verwandte
Substanzen: Celgene und andere Firmen sowie eine ganze Reihe von
Forschern suchen mit Hochdruck nach Stoffen, die mit dem Thalidomid
verwandt sind, aber weniger Nebenwirkungen haben. Allein am
US-amerikanischen National Cancer Institute wurden bislang 118 solcher
Substanzen entwickelt.

Naumanns Dresdner Patienten lässt das Hickhack um das Medikament kalt. Er bekam ein Jahr lang problemlos Pharmion-Thalidomid verschrieben. Er ist privat versichert.
Anne[a]
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