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Thema: Presse: Hirn-OP - und die Patientin blieb wach

Presse: Hirn-OP - und die Patientin blieb wach
Anne[a]
02.01.2006 09:35:21
Hirn-OP - und die Patientin blieb wach

Neurochirurgie: Ein außergewöhnlicher Eingriff am Klinikum Nord/Heidberg. Bei einer Patientin wurde im wachen Zustand ein gutartiger Gehirntumor entfernt. Damit konnte das Risiko des Eingriffs verringert werden.

Von Angela Grosse

Frau Schmidt, können Sie die rechte Hand bewegen?" fragt Neurochirurg Dr. Paul Kremer, während er ein Gewebestück aus dem Gehirn der Patientin entfernt. "Ja, ja, das geht gut", antwortet die Patientin und fährt fort zu erzählen, daß es bei Oma zu Weihnachten Entenbrust, Rotkohl und Klöße gäbe.

"Weil der Tumor nahe des Bewegungs- und Sprachzentrums liegt, werde ich die Patientin operieren, während sie wach ist", hatte Kremer vor der Operation erläutert. Es ist der erste Eingriff in Norddeutschland, bei dem einer wachen Patienten ein Gehirntumor entfernt wird. Ich bin gespannt. Privat-Dozent Paul Kremer, seit Mai Chefarzt der Neurochirurgie am Klinikum Nord/Heidberg, hat bereits mehrere derartige Operationen in Heidelberg durchgeführt. Entscheidend sei, daß das Team - Operateur, Assistent, Narkosearzt, Pfleger und Schwestern und in diesem Fall auch eine Psychologin - ruhig und entspannt sei.

Im abgedunkelten Operationsraum piept gleichmäßig der Herzmonitor, summt die Klimaanlage und aus den Absaugvorrichtungen dringen hin und wieder gurgelnde Geräusche. Alle lauschen der Unterhaltung zwischen der Patientin und der Psychologin, die ein offenes Zelt aus sterilen grünen OP-Tüchern umgibt. Fachsimpeleien sind untersagt.

Aufmerksam beobachtet der Narkosearzt seine Patientin, hält ihre Hand, läßt die Kontrollgeräte nicht aus den Augen. Er darf die junge Frau nur soweit betäuben, daß sie ansprechbar bleibt, Veränderungen in ihren Muskeln sofort spürt. Nur während der Eröffnung des Gehirns hatte er sie in eine tiefere Narkose gelegt. Bis dahin waren bereits eine Stunde und 45 Minuten verstrichen. Solange hatte es gedauert, bis die Patientin richtig gelagert und für den Eingriff am Gehirn vorbereitet war.

Ihr Kopf liegt auf der rechten Seite, die linke Seite des Schädels weist nach oben. Dort sitzt der Tumor. Ein Laser erfaßt die Lage des Kopfes. Diese Daten werden mit dem dreidimensionalen Datensatz der Magnetresonanztomographie, der vor dem Eingriff erstellt wurde, abgeglichen. Auf dem Bildschirm sehen die Operateure nun die Lage des Tumors. Die Neuronavigation wird ihnen bei der Fahrt durch das Gehirn helfen, auf ihm werden sie in den kommenden Stunden verfolgen, wo sie operieren. "Aber man muß das Gehirn im Gehirn haben", schmunzelt Kremer.

Nachdem die Ärzte die Stellen am Kopf markiert haben, wo sie den Schädelknochen durchtrennen wollen, rasieren sie die langen Haare der Patientin auf einem zwei Zentimeter breiten und zwölf Zentimeter langen Streifen ab. "Um Neurochirurg zu werden, sollte man Zöpfe flechten können", scherzt Kremer, während er sich als Friseur betätigt. Als die Haare geflochten, Operateure und Pfleger sich Hände und Arme geschrubbt, die langen hellgrünen Kittel über die dunkelblaue OP-Kleidung gezogen haben, Handschuhe, Mund- und Haarschutz tragen und die Patientin unter dem Zelt aus grünen OP-Tüchern verschwunden ist, sind die Vorbereitungen beendet. Wie gesagt, eine Stunde und 45 Minuten sind da verstrichen, seit die Patientin in den modernen OP-Raum geschoben wurde. "Wir sind jetzt fertig, Frau Schmidt, und können beginnen", informiert der Mediziner seine Patientin, während der Narkosearzt sie in einen etwas tieferen Schlaf fallen läßt.

Der OP-Raum, gefüllt mit Geräten zur Neuronavigation, Narkose- und Hirnstromkontrolle, dem OP-Mikroskop und sterilen OP-Bestecken auf drei Tischen, wird abgedunkelt. Nur die kleine Region am Kopf, an der die Ärzte operieren werden, ist angestrahlt. Mit einem etwa zehn Zentimeter langen Schnitt eröffnet Kremer die Kopfhaut. Haken und Klammern ziehen sie kreisrund auseinander. Das Surren eines Bohrers erklingt - man könnte beim Zahnarzt sein. Kremer sägt ein kreisrundes Stück Knochen aus dem Schädel - vier Zentimeter im Durchmesser. "Frauen haben einen dicken Kopf", sagt der Mediziner. "Das habe ich gehört", kommentiert die Patientin, die langsam wieder wacher wird. Der Schädelknochen wird in einem Stück entnommen, um später wieder in den Schädel eingesetzt zu werden. Jetzt noch die harte Hirnhaut, die Dura, aufklappen und das Gehirn liegt frei. Es sieht rosa-rot aus, weil sich viele Blutgefäße auf der Oberfläche ausbreiten, um es mit Sauerstoff zu versorgen.

Für die nun folgenden Operationsschritte muß die Patientin bei Bewußtsein sein. Das Hirn wird ihr keine Kopfschmerzen bereiten. Es kann nicht spüren, wenn man es berührt oder verletzt. "Können Berge niesen?" fragt die Psychologin. "Nein, Berge können nicht niesen", lautet die Antwort. "Können Enten radfahren?" "Nein, Enten können nicht radfahren." "Können Blumen blühen?" "Ja, Blumen können blühen," - mit diesen Dialogen überprüft die Psychologin während des Eingriffs immer wieder, ob das Sprachverständnis der Patientin leidet. "Frau Schmidt, Sie haben ein schönes Gehirn", unterbricht Kremer, der jetzt durch das Operationsmikroskop auf das Gehirn blickt und es etwa zehnmal größer als in Natur vor sich liegen sieht.

Zunächst reizt Kremer die Nervenzellen mit leichten Stromstößen. Dazu tippt er sie mit feinen Drähten an. Spürt die Patientin nichts, kann er das Gewebe ohne Schaden fürs Gehirn entnehmen. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter tastet er sich in die Tiefe der Großhirnrinde vor. Ein Uhrmacher würde erblassen vor dieser Präzisionsarbeit und den filigranen Geräten, mit denen der Mediziner dem Tumor zu Leibe rückt. "Der rechte Arm kribbelt ein bißchen", sagt die Patientin, sofort hält Kremer inne. Doch das Kribbeln verschwindet und weiter geht es.

"Ich könnte mir vorstellen, daß wir den Großteil des Tumors entfernt haben", informiert Kremer die Patientin, die gerade erzählt, wie ihre Kinder den Tag verbringen. Schließlich wird ein gutartiger Tumor von drei mal drei Zentimetern aus dem Gehirn entfernt sein - die Patientin hat davon nichts gespürt, ist im Gespräch mit der Psychologin versunken. "Das ist ja wie beim Kaffeeklatsch", schmunzelt Kremer, während er das Licht im Operationssaal wieder anknipsen läßt.

"Jetzt machen wir das Loch zu, Frau Schmidt", erläutert der Mediziner während er das OP-Mikroskop beiseite schiebt und die Navigation ausschaltet. Mit vielen Stichen schließt er die Hirnhaut, setzt den Schädelknochen ein und näht die Kopfhaut kunstvoll zusammen. Um 13 Uhr, nach fünf Stunden ist diese außergewöhnliche Operation beendet.

Eine Woche später auf der weihnachtlich geschmückten Krankenstation. Die Patientin strahlt. Ihr geht es gut, sie wird noch vor dem Fest nach Hause gehen. Ob sie eines der Rezepte zubereiten wird, von denen sie uns im Operationssaal erzählt hat? "Ich erinnere mich daran nur noch schemenhaft", sagt sie lächelnd. Schmerzen oder Angst habe sie nicht gehabt.

* Name von der Redaktion geändert

erschienen am 24. Dezember 2005
Hamburger Abendblatt
Anne[a]
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