Moni[a]
Nachrufe auf einen Lebenden
New York. Nicht alle, die gekommen sind, um von Marty Geltman Abschied zu nehmen, tragen Trauerkleidung. Manche kommen in bunten Kleidern, manche in Jeans und T-Shirt, andere im hellen Sommeranzug.
Die Nachrufe auf den pensionierten Grundschullehrer sind wie erwartet zahlreich und leidenschaftlich. Es ist eine Trauerfeier wie viele andere - mit einem gravierenden Unterschied: Marty Geltman sitzt im Kreis seiner Trauergäste. Er ist gar nicht gestorben, noch nicht. Doch er hat nicht mehr lange zu leben.
Die Ärzte geben ihm höchstens noch drei Monate. Deshalb hat Marty Geltman schon jetzt seine Freunde um sich versammelt, zu einer "Lebensfeier". Den baldigen Abschied vor Augen, dachten Marty Geltman und seine Frau an die Trauerfeiern, die sie selbst als Gäste erlebt haben: "Wir waren auf so vielen Beerdigungen und haben gedacht: Wie schade, dass der Verstorbene die schönen Reden nicht hören kann, die jetzt auf ihn gehalten werden."
Der Gedanke ist nicht neu, doch originell ist die Konsequenz, die immer mehr New Yorker aus diesem Dilemma ziehen: Sie feiern ihren Abschied lieber zu Lebzeiten. 100 Freunde, Kollegen und Weggefährten hat der todkranke 65-Jährige eingeladen. Sie alle wissen, wie es um ihn steht. Sein Gehirntumor kann nicht operiert werden. Über dem Morgen in dem Backsteinhaus in Morristown liegt in manchen Momenten die schwere Abschiedsstimmung, die man erwarten konnte. Doch es gibt auch heitere Augenblicke. Freunde führen einen Sketch auf, eine Bekannte des Gastgebers singt "Hello Marty" auf die Melodie von "Hello, Dolly". Und der Betrauerte selbst, der für den Festtag seinen Smoking angezogen hat, kann die Tränen nicht zurückhalten, als der Organist sein Lieblingsstück spielt: Pachelbels Canon in D-Dur. Am Ende verabschieden sich die Gäste einzeln von Marty Geltman.
Die Idee einer Abschiedsfeier zu Lebzeiten verdanken die Geltmans einer Bekannten, die sie 1993 zu einer ähnlichen Feier eingeladen hatte. Sie starb drei Tage später. In den letzten Jahren sind "Lebensfeiern" in vielen US-Großstädten immer populärer geworden. "Wenn es gut gemacht ist, offen und ehrlich, ist es eine gute Sache. Es kann vielen Menschen helfen, Abschied zu nehmen", sagt die Psychologin Judith Stillion, die in der Vereinigung amerikanischer Psychologen für Trauerbewältigung zuständig ist. Der Verband der Bestattungsunternehmer dagegen ist skeptisch: "Für denjenigen, der stirbt, mag es eine Hilfe sein. Doch die, die zurückbleiben, brauchen sicher noch eine andere Gelegenheit, von ihm Abschied zu nehmen und sich mit seinem Tod auseinanderzusetzen", sagt Verbandspräsident John Carmon.
Mögen sich die Experten auch streiten, Geltman ist am Ende seiner Feier zufrieden und kann sogar über sich selbst lachen: "Ich dachte, die würden mich heute mal so richtig loben und preisen. Aber so doll, wie erwartet, war es gar nicht." Ernst fügt er an: "Ich wollte meinen Freunden zeigen, wie man stirbt und wie man Abschied nimmt. Jetzt ist es okay. Es ist wirklich okay so."
VON MARKUS GÜNTHER