Katja[a]
Neue Hoffung auf wirksame Behandlung tückischer Hirntumoren
von Ingrid Kupczik
Hamburg - Zehn Jahre hat Marianne L. schon am Tinnitus gelitten. Mit dem leichten Klingelton im Ohr hat sich die 57-jährige Grundschullehrerin arrangiert. Eines Tages schwillt dieser Klingelton jedoch an, wird schrill und so laut, dass sie kaum noch ihre Schüler versteht. Die Hamburgerin begibt sich sofort ins Krankenhaus, erhält Medikamente. Von denen wird ihr aber nur schlecht. Am nächsten Tag, bei der Computertomographie des Kopfes, stellt sich heraus: Marianne L. hat einen Tumor im Gehirn, sichtbar als heller Fleck, groß wie eine Kastanie.
Drei Wochen später wird der Tumor operativ entfernt. Noch am selben Tag erklärt der behandelnde Arzt dem schockierten Ehemann: "Ich kann Ihnen leider keine gute Nachricht geben. Ihre Frau hat ein Glioblastom." Von dieser Krankheit hatte Werner L. bis zu diesem Zeitpunkt nie gehört. Es handelt sich, wie er erfährt, um einen bösartigen Hirntumor, kaum zu stoppen, nicht zu heilen. Lebenserwartung nach der Diagnose: 3,5 bis zwölf Monate.
Pro Jahr erkranken in Deutschland etwa 3000 Menschen an hirneigenen Tumoren (Gliomen). Die häufigste und schlimmste Form ist das Glioblastom. Es kann grundsätzlich in jedem Lebensalter auftreten, gehäuft ist es aber im fünften Lebensjahrzehnt, bei Männern mehr als bei Frauen. Erste Anzeichen eines Hirntumors können epileptische Anfälle, Lähmungserscheinungen oder Veränderungen der Persönlichkeit sein. Viel mehr weiß man nicht. Die Ursachen sind unbekannt. Die Therapie ist schwierig und wenig erfolgreich. "Wir können bisher mit Operationen, Strahlen- und Chemotherapie allenfalls die Lebensspanne ein wenig verlängern, damit der Betroffene Zeit hat, seine Angelegenheiten zu regeln", sagt Professor Dr. Christoph Ostertag vom Neurozentrum der Universität Freiburg. "Die Uhren stehen bei dieser Krankheit seit 50 Jahren still."
Das Tückische an hirneigenen Tumoren: Sie haben keine fest umrissenen Grenzen, dehnen sich aus wie das Rhizom eines Bambus. Daher lassen sie sich, anders als solide Lungentumoren oder knotige Metastasen, kaum herauspräparieren. Bestrahlung im sensiblen Hirngewebe ist ebenfalls schwierig. "Man bestrahlt viel gesundes Gewebe, bevor der Tumor erreicht wird", erklärt Ostertag. Eine Chemotherapie mit Nitrosoharnstoffen wiederum wirke allenfalls bei einem Drittel der Patienten lebensverlängernd.
Nun aber besteht erstmals berechtigte Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung von Gliomen. Auf der "1. Neurowissenschaftlichen Konferenz der Deutschen Akademie für Neurochirurgie" am Wochenende in Freiburg wurde eine neuartige "biologische" Behandlung mit Immuntoxinen vorgestellt. Es handelt sich um labortechnisch hergestellte Fusions-Eiweiße. Sie bestehen aus einem Antikörper und einem starken Gift, entweder dem bakteriellen Diphtherie-Toxin oder dem Gift aus dem Rizinussamen (Ricin). Diese Immuntoxine arbeiten sehr selektiv: Sie gelangen über spezifische Rezeptoren (Tranferrinrezeptoren) in die Tumorzellen; gesunde Zellen bleiben hingegen verschont. Die Wirksubstanz wird dem Patienten über einen Zugang durch die Schädeldecke mittels Katheter direkt und unter Druck ins Tumorgewebe injiziert.
Erste Studien an den National Institutes of Health in Bethesda zeigten verblüffende Ergebnisse: In einer Phase-II-Studie wurden 44 todgeweihte Patienten mit den Immuntoxinen behandelt. 34 Fälle waren statistisch auswertbar: Bei sieben Patienten schrumpfte der Hirntumor. Bei vier Patienten verschwand der Tumor vollständig. In Kürze soll in Deutschland eine Phase-III-Multicenter-Studie starten, in der 486 Patienten mit Immuntoxinen behandelt werden.
"Wir warten nur noch auf die Entscheidung der Ethikkommission", sagt Professor Ostertag.
Marianne L. starb zehn Monate nach der Krankheitsdiagnose. Das ist sechs Jahre her. Danach verlor Werner L. zwei weitere ihm nahe stehende Menschen, einen guten Freund und seinen Nachbarn. Beide starben am Glioblastom. "Eine fürchterliche Krankheit", sagt er.
Artikel erschienen am 22. Jun 2003
Quelle: WAMS