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Patienten am Drücker
Menschen mit seltenen Krankheiten warten nicht einfach auf bessere Medikamente. Selbsthilfegruppen organisieren und bezahlen die Forschung
Thomas Häusler und Achim Wüsthof
Für seine Tochter kommt jede Hoffnung zu spät. Thomas Baum weiß, dass seine Arbeit in der Selbsthilfegruppe bestenfalls eines Tages anderen Kindern helfen wird. Baums Tochter hat Mukopolysaccharidose. Für die seltene Stoffwechselerkrankung gibt es keine Therapie, und sie verläuft fast immer tödlich. Damit vielleicht ein Medikament gefunden wird, das die Krankheit aufhält und der nur 110 Zentimeter großen 15-Jährigen weitere Operationen erspart, investiert der von Eltern gegründete Verein allein in diesem Jahr rund 150 000 Mark in die Forschung.
Mit solch tatkräftiger Einmischung in die Medikamentenforschung proben auch andere Patientenorganisationen nun den Aufstand gegen das Schicksal. Sie beschränken sich nicht länger auf seelischen Beistand für ihre Mitglieder oder Rat bei der Arztwahl, sondern finanzieren medizinische Forschungsprojekte, vor allem zur Entwicklung von Arzneien für so genannte orphan diseases - seltene Erkrankungen, von denen es mehr als 5000 gibt. Die Berliner Selbsthilfegruppen-Vereinigung Nakos hat Gruppen für rund 200 dieser seltenen Leiden in den "blauen Adressen" zusammengetragen. Die Liste reicht von der Chromosomenstörung 11q-Syndrom bis hin zur Zellophanmakulopathie - beides Krankheiten, von denen die meisten Ärzte nie etwas gehört haben.
In allen Bereichen der Medizin sind Patienten und ihre Angehörigen dabei, durch handfeste Wissenschaftsförderung etwas gegen ihre Leiden zu tun. Neue Strukturen machen es möglich: Das Internet hat das Informationsmonopol von Ärzten und Forschern gesprengt, und die rot-grüne Bundesregierung hat die gesetzlichen Krankenkassen per Gesetz verpflichtet, Selbsthilfegruppen mit einer Mark pro Versichertem zu fördern. Zudem trat im Jahr 2000 in Europa die Orphan-Drug-Verordnung in Kraft, mit der die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen unterstützt wird - nach EU-Definition Leiden, die weniger als fünf Patienten pro 10 000 Einwohner betreffen. Das können bis zu 185 000 Europäer sein.
Für Big Pharma sind solche Patientenzahlen dennoch zu gering, die Märkte zu klein, um Medikamente für orphan diseases zu entwickeln. Solch exotischer Leiden, an denen in Deutschland im Extremfall nur zwei Patienten leiden, nehmen sich allenfalls kleine Unternehmen wie das 1990 in Paris gegründete Orphan Europe an. "Uns sprechen die Selbsthilfegruppen direkt an", sagt Eberhard Kroll von der deutschen Dependance der Firma. "Wenn nicht wir, wer dann?", fragt Thomas Baum, der sich als Partner der Wissenschaftler sieht und auf Erfolge aus den Labors setzt. Ein Beispiel sind die von seinem Verein gesponserten molekularbiologischen Untersuchungen in der Uni-Kinderklinik Hamburg, die als möglicher Schlüssel für eine Therapie der Mukopolysaccharidose gelten. Das Ziel der Forscher: zu verhindern, dass sich wegen eines defekten Enzyms langkettige Zuckerverbindungen ablagern, die das Wachstum stören und die Nervenzellen bedrohen - bis Lähmungen auftreten.
Manche Selbsthilfegruppen nehmen ihre Bezeichnung noch weitaus wörtlicher: Sie geben nicht nur gezielt Geld, sondern forschen gleich selbst. Patrick und Sharon Terry gründeten 1995 die Selbsthilfegruppe PXE International, um schneller an medizinische Hilfe für ihre zwei Kinder zu kommen, die an der genetischen Krankheit Pseudoxanthema elasticum (PXE) leiden, von der in Deutschland schätzungsweise 600 Menschen betroffen sind.
Genpatent in Patientenhand
Die Terrys wurden zu Freizeitforschern, nachdem bei ihren damals sechs- und achtjährigen Kindern Ian und Elizabeth PXE diagnostiziert wurde. Bei dem Leiden wird Kalzium in Haut, Arterien und Netzhaut eingelagert. Als Folge können die Augen degenerieren und Durchblutungsstörungen auftreten. Die Eltern machten sich ohne Respekt vor der Medizin an die Arbeit. "Wir dachten, eine Behandlung zu finden sollte nicht schwerer sein, als ein Bauprojekt zu führen, wie es mein Mann in seinem Job tut", sagt Sharon Terry. Als Start hat das Ehepaar eine Blutbank von PXE-Kranken aufgebaut - eine Aufgabe, die bisher Wissenschaftlern vorbehalten war. Vorletztes Jahr hat die ungewöhnliche Liaison den ersten Erfolg verbucht: Zwei Labors haben mithilfe der Blutbank das PXE-Gen gefunden. Und PXE International ist weltweit als erste Patientenorganisation Mitinhaber eines Patents für ein Krankheitsgen geworden.
Die Reaktion der Forscher auf die unerwartete Einmischung pendelt zwischen Ablehnung und Zustimmung. "Es gab Forscher, die nicht mit uns arbeiten wollten", sagt Sharon Terry. Charles Boyd von der Universität Hawaii ist einer der Wissenschaftler, die das PXE-Gen fanden. Er ist voll des Lobes: "Sie leistet wissenschaftlich unheimlich viel." Daher wurde Terry in zwei Publikationen als Mitentdeckerin des PXE-Gens genannt. Positiv äußert sich auch die Biologin Judith Tsipis von der Brandeis-Universität, Waltham, USA. Es sei gut, dass PXE International die Kontrolle über die Blutproben und das Teilpatent halte. Denn viele Institute wollten exklusive Rechte auf Gene, was die freie Forschung unmöglich mache, kritisiert Tsipis, die selbst ein Kind wegen einer genetischen Krankheit verloren hat.
Die neue "Patienten-Power" (New Scientist) macht sich derweil in vielen Gebieten bemerkbar. Sie führt zu verbesserten Krebsstudien, hat einer pragmatischen Behandlung von Aids-Patienten den Weg geebnet oder einem besseren Informationsaustausch unter Menschen mit seltenen Erkrankungen. Zuletzt hat der Pharmagigant Novartis spüren müssen, wie viel Druck das Engagement auch weniger Patienten erzeugen kann: In frühen Tests erwies sich sein Wirkstoff STI 571 als sehr erfolgreich gegen chronisch-myeloische Leukämie (CML), eine Form des Blutkrebses. Die Resultate sickerten über das Internet zu den gut organisierten CML-Kranken. "Die Betroffenen eröffneten Websites, um STI 571 bekannt zu machen", staunt Jean Gloor, der für das Medikament zuständige Marketingmanager. 4000 CML-Kranke verlangten zwei Tage nach Bekanntwerden der ersten Daten im Netz, Novartis solle die Produktion des Versuchsstoffs ausweiten, um ihn schneller durch die Tests zu peitschen. Mit Erfolg. STI 571 kam - viel früher als geplant - unter dem Namen Glivec auf den Markt. Der Triumph der CML-Kranken ist umso größer, als Glivec wohl kein Kassenschlager wird. Seine Wirksamkeit ist nur bei der recht seltenen CML getestet.
Nur die Aids-Aktivisten erreichten ähnlichen Einfluss, als sie vor zehn Jahren mit massivem Druck den rascheren Einsatz einiger Medikamente erzwangen. Ihre Schlagkraft war damals - anders als bei den viel selteneren CML-Kranken - in den rapide steigenden Patientenzahlen begründet. Diesen Unterschied macht das Internet nun wett. Pharma-Manager sehen die Aktion der CML-Aktivisten als Brise vor dem Sturm. "Ich erwarte, dass wir von Patienten viel Druck bekommen", gestand Paulo Costa, Chef von Novartis USA im Fachblatt Pharmaceutical Executive, "und wir werden lernen müssen, darauf einzugehen."
Schnell gelernt haben die Patienten, vor allem den Umgang mit dem Internet. Noch vor zwei Jahren waren manche Ärzte überrascht und nicht wenige genervt, wenn Patienten ihnen ihre Recherchen gleich stapelweise auf den Tisch legten und über die neuesten Therapien diskutieren wollten. Eine Studie unter 12 000 US-Internet-Nutzern zeigt, dass 55 Prozent das Netz für Gesundheitsinformationen konsultieren. Schon jetzt habe sich das Verhältnis Arzt/Patient dadurch stark verändert, vermuten Gesundheitsexperten.
Dabei wird es nicht bleiben. Surfende Kranke hebeln bereits nationale Gesundheitsvorschriften aus, indem sie in Massen nach Therapien verlangen, die in ihrem Land nicht erhältlich sind. Noch nicht zugelassene Arzneien besorgen sie sich per Internet-Apotheke.
Selbsthilfe wird Pharmafirma
Die Pharmaindustrie hat entdeckt, dass es dem Image mehr nützt, eine Selbsthilfegruppe zu unterstützen, als Luxusreisen für Ärzte zu finanzieren. Das Engagement wirkt honorig und ist zugleich eine effiziente Werbeplattform. Großzügig finanzieren die Medikamentenhersteller Selbsthilfekongresse und bieten sogar Sponsoringkurse an. Bei der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft sind die Firmen besonders aktiv. Von der Homepage der Patientenorganisation gibt es direkte Links zu den Produkten gegen die Degenerationserkrankung. Immerhin gelten die rund 120 000 Betroffenen hierzulande als interessanter Markt für die teuren Medikamente.
Die amerikanische Cystische-Fibrose-Foundation (CFF), in den fünfziger Jahren von Betroffenen und Eltern der Erbkrankheit Cystische Fibrose (CF) gegründet, hat sich zur "virtuellen Pharmafirma" gemausert. Sie soll CF-Kranken, die durch einen Gen-Defekt mit verschleimten Lungen leben müssen und meist nicht älter als 30 werden, in der Hälfte der üblichen Zeit neue Medikamente liefern. Auch CF ist zu selten, um das Interesse großer Pharmafirmen zu wecken. Um die Behandlung der Kranken zu verbessern und klinische Studien mit neuen Medikamenten durchzuführen, hat die CFF ein Netz von Therapiezentren gesponnen. Vor kurzem hat sie das letzte Glied eingefügt, das ihrer "virtuellen Pharmafirma" noch fehlte. Die Stiftung prüfte die Forschungsmethoden verschiedener Bio-Tech-Firmen und hat die kalifornische Aurora Biosciences für 30 Millionen Dollar beauftragt, zwei bis drei neue Wirkstoffe zu entwickeln. "CFF ist zum Trendsetter der modernen molekularen Medizin geworden", lobt Francis Collins, Direktor des amerikanischen Human Genome Research Institute. Der Verein kann sich Forschung leisten. Allein von der Bill and Melinda Gates Foundation erhielt er kürzlich auf einen Schlag 20 Millionen Dollar.
Wichtiger noch als viel Geld ist der Ansporn der Wissenschaftler durch die Leidtragenden selbst. Niemand hat so viel Interesse an Forschungsergebnissen. Aber hier liegt auch gleichzeitig der Nachteil: Die Forschung unter Leidensdruck wird emotional und kann an Objektivität verlieren. Wie in dem auf einer wahren Geschichte basierenden Hollywood-Streifen Lorenzo´s Oil. Die verzweifelten Eltern eines an Adrenoleukodystrophie erkrankten Jungen, der innerhalb weniger Monate zum zuckenden Bündel wird, entwickeln ein besonderes Öl, das die Ablagerung von superlangkettigen Fettsäuren im Gehirn verhindern soll. Die Ärzte bekommen die Rolle der ignoranten Skeptiker, während die Patienten im Öl ihre letzte Hoffnung sehen. "Die Selbsthilfegruppen und letztendlich der Film haben dazu beigetragen, dass viele Eltern ihre schwer kranken Kinder jahrelang mit dem Öl gefüttert haben, bis sie einsehen mussten, dass es nicht wirkt", sagt der Stoffwechselspezialist Kurt Ullrich von der Hamburger Kinderklinik.
Vor zu hohen Erwartungen vonseiten der Patientengruppen warnt auch Michael Shamblott von der Johns Hopkins University in Baltimore. Der Zellbiologe forscht an Stammzellen, die abgestorbene Nervenzellen vielleicht eines Tages ersetzen. Kranke mit Multipler Sklerose, Diabetes, Lähmungen nach Schlaganfall oder anderen Schädigungen des Nervensystems könnten von seinen Erkenntnissen profitieren. "Wir nehmen die Unterstützung der Patientenorganisationen gern an, doch darf kein Druck unsere wissenschaftlichen Entscheidungen beeinflussen", sagt Shamblott. Die Betroffenen müssten verstehen, dass sich der Weg von der Grundlagenforschung bis zur klinischen Anwendung durch ständiges Nachfragen nicht verkürzen ließe.
Gleichwohl habe der Patient das Recht, eine Behandlung zu fordern, sagt der Onkologe Gerhard Nagel. Der wissenschaftliche Direktor der Klinik für Tumorbiologie der Universität Freiburg hält zwar die direkte Einmischung von Patientenorganisationen in Forschungsentscheidungen für falsch, wünscht sich aber insgesamt "kompetentere" Partner. "Wer sein Wissen gefiltert hat, wird zum ´erfolgreichen´ Patienten", glaubt Nagel. Die Ärzte müssten herausfinden, welche Informationen ihre Kranken benötigen und gegebenenfalls auch eine zweite Meinung akzeptieren.
In Großbritannien plant das Gesundheitsministerium sogar, den umgekehrten Weg zu gehen. In den nächsten sechs Jahren sollen dort Wissen und Erfahrungen von Patienten mit chronischen Erkrankungen systematisch in die Krankenversorgung einbezogen werden. Immerhin zwei Millionen Pfund jährlich werden für das "Expertenpatient"-System ausgegeben werden. Auf Dauer, sagte Britanniens oberster Arzt Liam Donaldson, erfordere das neue Schema von den Ärzten eine andere Haltung gegenüber den Kranken, die wohl bereits an der Universität gelehrt werden müsse: Es gehe um mehr, als den Patienten ein paar gute Websites zu empfehlen, sagt Donaldson, "wir wollen sie ausbilden und zu gleichberechtigten Partnern im Gesundheitssystem machen".
DIE ZEIT 02/2002