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NZZ - 6. Februar 2002
Hirntumoren - Wege aus der therapeutischen Sackgasse
Gezielte Therapien versprechen mehr Hoffnung
Bösartige Hirntumoren sind zwar selten, doch ihre Behandlung ist schwierig. Bisherige Therapiekonzepte kombinieren die chirurgische Entfernung der Geschwulst mit Strahlen- und Chemotherapie. Neue, teilweise noch in Erprobung stehende Medikamente lassen hoffen, dass die Behandlung von Hirntumoren bald effektiver sein wird.
Von Silvia Hofer und Adrian Merlo*
In der Schweiz erkranken jährlich rund 500 Erwachsene an einem bösartigen Hirntumor. Amhäufigsten ist das Glioblastom, bei dem die mittlere Überlebenszeit weniger als ein Jahr beträgt.Daneben gibt es die prognostisch etwas günstigeren Astrozytome, Oligodendrogliome, Ependymome und verschiedene Mischtumoren. Allediese Krebsarten werden als bösartige Gliome zusammengefasst, da sie von undifferenzierten Vorläuferzellen oder vom reifen Stützgewebe des Gehirns (Glia) stammen. Gliome bestehen aus sichrasch teilenden Zellverbänden, die auf eine einzelne entartete Zelle zurückgehen und sehr früh das angrenzende Hirngewebe infiltrieren können.
Symptome des erhöhten Hirndrucks
Wird die Hirnrinde vom Tumor befallen, kann es zu epileptischen Anfällen kommen. Am häufigsten wachsen Gliome im Stirnhirn und führen zu Störungen des Antriebs und des Gemüts, was als Depression fehlgedeutet werden kann. Nicht selten entwickeln sich Glioblastome in wenigen Wochen unbemerkt zu grossen Tumoren und machen sich dann plötzlich durch sogenannte Hirndruck-Zeichen wie Übelkeit, Kopfschmerzen und Erbrechen oder durch Lähmungen bemerkbar. Gelegentlich kommt es auch zu einer akuten Blutung aus Blutgefässen des Tumors, die wegen des grossen Nährstoffverbrauchs vom Krebs gebildet werden. Trotz ihrem aggressiven Verhalten sind Metastasen bei Hirntumoren selten.
Besteht bei einem Patienten der Verdacht auf einen Hirntumor, wird zur bildlichen Darstellung eine Magnetresonanz- oder eine konventionelle Computertomographie (MRI oder CT) des Hirns durchgeführt. Die Bestätigung der radiologischen Diagnose erfolgt durch eine Analyse einer Gewebsprobe (Biopsie) oder am operativ entfernten Tumor. Die Neurochirurgie ist also die erste medizinische Disziplin, mit der ein Patient mit einem Hirntumor zu tun hat. In den letzten Jahren hat die Neurochirurgie eine grosse Entwicklung durchgemacht. Die Gefahr, bei einer Hirntumor-Operation zu sterben, ist heute praktisch verschwunden. Auch schwere Komplikationen wie Nachblutungen im Operationsgebiet oder Lungenembolien sind selten geworden. Moderne technische Hilfsmittel wie das intraoperative, also während der Operation eingesetzte MRI oder die computergestützte Navigation (vgl. nebenstehenden Artikel) erlauben die genaue Bestimmung von Lage und Ausmass des Tumors.
Trotz diesen Hilfsmitteln gelingt es praktisch nie, bei einem Patienten den gesamten Tumor zu entfernen, ohne gleichzeitig wichtige Hirnfunktionen zu gefährden. Denn es bleiben immer Tumorzellen übrig, die auch mit modernsten Methoden nicht sichtbar sind. Der chirurgischen Therapie sind also biologische Grenzen gesetzt. Die äussere Bestrahlung der Tumorregion, wie sie seit den frühen 1980er Jahren nach einer Operation üblich ist, kann das Fortschreiten der Geschwulst für einige Monate unterdrücken. Die Radioonkologie, die zweite Fachdisziplin, die sich um Hirntumor-Patienten kümmert, befindet sich bei ihrer Arbeit allerdings in einem Dilemma: Sie muss eine Strahlendosis applizieren, die vom gesunden Gehirn toleriert wird, gleichzeitig aber auch gegen den Tumor wirksam ist.
Die Blut-Hirn-Schranke passieren
Um die Tumorzellen zu zerstören, die einer Radiotherapie widerstanden haben, setzt man seit über 20 Jahren verschiedene Zytostatika ein. Prinzipiell stehen heute gut verträgliche Substanzen für eine solche Chemotherapie zur Verfügung, die meist ambulant verabreicht werden können. Die Onkologie, die dritte Fachdisziplin in der Betreuung von Hirntumor-Patienten, hat bei ihrer Arbeitaber auch einige Hürden zu überwinden: Einerseits sind die Zellen von Hirntumoren meistensunempfindlich auf Zytostatika, zum anderen müssen wirksame Medikamente die sogenannte Blut- Hirn-Schranke überwinden - eine Schranke, die das gesunde Gehirn vor toxischen Substanzen aus der Blutbahn schützt. Die wenigen Zytostatika, die diese Schranke passieren können, sind kleine, fettlösliche und nicht ionisierte Moleküle.
Eine klassische Chemotherapie verlängert die Überlebenszeit bei Hirntumoren im Schnitt meistens nur um wenige Wochen. Davon ausgenommen sind Oligodendrogliome, eine Unterart von Gliomen aus spezialisierten Gliazellen (Oligodendrozyten), welche die Nervenfasern mit einer Proteinschicht (Myelin) umhüllen. Oligodendrogliome sprechen in etwa zwei Dritteln der Fälleauf eine Chemotherapie an. Typische Genmutationen auf den Chromosomen 1 und 19 erlaubenhier zudem eine recht gute Voraussage des zu erwartenden Therapieeffekts.
In Einzelfällen führen auch moderne Anwendungsformen von klassischen Zytostatika zu überraschenden Therapieerfolgen - etwa mit einerkontinuierlichen, aber niedrigen Medikamentendosierung anstelle einer sogenannt zytotoxischen und in Intervallen verabreichten Therapie. Dabei dürften in erster Linie die Blutgefässe des Tumors geschädigt werden mit anschliessendem «Aushungern» der Geschwulst.
Die ausgesprochene Resistenz der Gliome gegenüber Medikamenten und Strahlen liegt in der spezifischen Tumorbiologie begründet. Eine normale Zelle unterbricht die Zellteilung, sobald sie eine innere (z. B. durch Sauerstoffradikale) oder äussere Schädigung (Strahlung, krebsauslösende Substanzen) erleidet, um einen möglichen Defekt an der Erbsubstanz (DNA) zu reparieren. Gelingt es der Zelle nicht, diesen Schaden zu beheben, leitet sie ihre eigene Zerstörung ein, was auch als programmierter Zelltod oder Apoptose bezeichnet wird. Tumorzellen hingegen können Tausende von genetischen Defekten tolerieren, ohne dass diese repariert oder Zelltod-Programme aktiviert werden. Hirntumoren tricksen nämlich eine Reihe zellulärer Schlüsselfunktionen auswie z. B. die Stoppsignale für die Zellteilung sowie Gene, die das Wachstum und die Migrationvon Zellen kontrollieren. Zudem sind in Hirntumoren oft krebsfördernde Wachstumsfaktoren aktiv. Noch weitgehend unklar ist die Rolle der DNA-Reparatur-Enzyme in der Entstehung von Hirntumoren. Diese dürften jedoch für die massive Anhäufung von DNA-Schäden verantwortlich sein, indem sie, statt Schäden zu reparieren,selbst Genmutationen produzieren. Insgesamt filtert also ein zufälliger Selektionsprozess aus einer Fülle von Genmutationen jene heraus, die aus dem ursprünglichen Tumor ein rasch wachsendes und widerstandsfähiges Gebilde machen.
Eine neuartige Stoffklasse von Krebsmitteln, die gezielt den krebsauslösenden molekularen Defekt ansteuern, sind heute für verschiedene Tumoren in Entwicklung und zum Teil bereits erhältlich. Aufsehen erregte vor einem Jahr das von Novartis entwickelte Medikament Glivec, das durch die Blockierung der sogenannten Tyrosinkinase im Frühstadium von gewissen Formen der Leukämie und bei einer seltenen Tumorart des Magen-Darm-Trakts zu erstaunlichen Therapieerfolgen führt. Medikamente, die ebenso spezifisch molekulare Veränderungen bei Glioblastomen angreifen, müssen allerdings erst noch entwickelt werden. In klinischer Prüfung befinden sich Wirkstoffe, die ähnliche Enzyme wie die Tyrosinkinase hemmen, wodurch Wachstum und Infiltration von Glioblastomzellen gebremst werden könnten. Interessant ist ein auf den Osterinseln entdecktes Antibiotikum (Rapamycin), das bei gewissen Glioblastomen wirksam scheint.
In den letzten Jahren wurden auch verschiedene Verabreichungsarten zur lokalen Tumorbehandlung entwickelt. Mit diesen Ansätzen versucht man, Tumorzellen direkt anzusteuern und sie anschliessend zu vernichten. Zum Einsatz kommen dabei Moleküle, die einerseits gegen Oberflächenstrukturen des Tumors oder Zellrezeptoren gerichtet sind und anderseits eine sogenannte Effektor-Domäne besitzen. Darunter fallen Bestandteile von Bakteriengiften wie das Diphtherie- oder Pseudomonas-Toxin sowie radioaktive Substanzen (Iod-131, Yttrium-90 oder Wismut-213), deren Wirkung gezielt gegen Tumorzellen gerichtet ist.
Solche bakteriellen Toxin-Konjugate sowie radioaktiv markierte Antikörper werden zurzeit an amerikanischen und italienischen Universitäten getestet. An der ETH Zürich werden Bruchstücke von Antikörpern entwickelt, die selektiv gegen die Blutgefässe im Tumorgewebe gerichtet sind. Am Universitätsspital Basel schliesslich werden Patienten nach einer Tumoroperation mit radioaktiv markierten Peptidhormonen behandelt. Nach der Entfernung der Geschwulst wird bei ihnen ein Katheter in die entstandene «Tumorhöhle» eingelegt, über den das radioaktive Medikament injiziert werden kann. Im kritischen Randgebiet desTumors verteilt, bindet diese Substanz an die verbleibenden Tumorzellen und zerstört sie mittels Elektronenstrahlen. Das umliegende Gewebe wird dabei weitgehend geschont.
* S. H. arbeitet als Neuroonkologin am Universitätsspital Basel. A. M. ist Professor für Neurochirurgie und der Leiter des neuroonkologischen Forschungslabors am selben Spital.
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Orginal: http://www.nzz.ch/2002/02/06/ft/page-article7WYLP.html