Der Antragsteller leidet an einem Glioblastom und begehrt die Versorgung mit der so genannten CUSP9v3-Therapie (Coordinated Undermining of Survival Paths combining 9 repurposed non-oncological drugs with metronomic temozolomide, version 3). Dabei handelt es sich um eine neuartige Behandlungsmethode, bei der neun nicht-onkologische Arzneimittel zulassungsüberschreitend in Kombination mit einem niedrig dosierten Zytostatikum (Temozolomid) angewandt werden.
Die gesetzliche Krankenversicherung hat nach der Einschaltung des MD die begehrte Leistung abgelehnt. Der Antragsteller hat hiergegen Widerspruch eingelegt und eine Woche später den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 14.6.2024 dem Antrag stattgegeben (S 198 KR 556/24 ER).
Aus den Entscheidungsgründen:
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Dennoch ist derzeit nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass die vorhandenen Erkenntnisse die Annahme rechtfertigen, dass der angestrebte Erfolg erreicht werden kann. Für diese Wahrscheinlichkeitsbetrachtung gilt der Maßstab, dass eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank-heitsverlauf ausreicht, nur insoweit, als eine Aussicht auf Heilung der Grunderkrankung selbst oder auf positive Einwirkung auf den Verlauf der Grunderkrankung als solcher bestehen muss. Denn nur in diesem Fall ist die erweiternde Auslegung der leistungsrechtlichen Voraussetzungen des SGB V geboten. Allein die Hoffnung einer – unter Umständen ganz geringen – Chance auf Heilung der Krankheit oder auf nachhaltige, nicht nur wenige Tage oder Wochen umfassende, Le-bensverlängerung rechtfertigt es, die Voraussetzungen an den Nachweis der Wirksamkeit von Behandlungsmethoden so weit zu reduzieren, wie das in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, lässt sich derzeit ebenso wenig beurteilen. Der Hausarzt des Antragstellers hat angegeben, dass er dies nicht beurteilen könne. Im Befundbericht der Charité Berlin ist ohne Begründung ausgeführt, dass die Voraussetzungen erfüllt seien. Prof. Dr. Halatsch führt hierzu mit Verweis auf die von ihm publizierte Phase Ib/IIa-Studie aus, dass sich unter den zehn Studienteilnehmern drei Langzeitüberlebende befunden hätten; zwar seien diese Beobachtungen aufgrund möglicher statistischer Verzerrungen bei einarmigem Studiendesign und kleiner Patientenzahl mit Vorsicht zu interpretieren, stellten aber dennoch einen relevanten Anhaltspunkt für eine mögliche Wirksamkeit der CUSP9v3-Therapie beim Glioblastom-Rezidiv dar. Er führt weiter aus, dass die biologische Wirkung von CUSP9v3 auf einer abstrakten Ebene wissenschaftlich gezeigt worden sei und Effekte im Rahmen von Einzelfallberichten über individuelle Heilversuche dokumentiert seien. Auf konkreter Ebene sieht er keine Gründe, die gegen den Einsatz bei dem Antragsteller sprächen. Der MD führt hingegen aus, dass es in der Phase Ib/IIa-Studie eine Ansprechrate von 0 % gegeben habe und das mediane progressionsfreie Überleben drei Monate betragen habe, das mediane Gesamtüberleben ca. sieben Monate. Zudem führt er erhebliche Nebenwirkungen auf. Damit ist es dem Gericht derzeit mangels eigener Sachkunde nicht möglich zu prüfen, ob es hinreichende Anhaltspunkte für eine Wirksamkeit gibt.
Sind demnach die Voraussetzungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht hinreichend aufklärbar, so hat das Gericht aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese geht zugunsten des Antragstellers aus. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) stellt besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Haupt-sacheverfahren nicht mehr beseitigt werden können. Dann sind die Gerichte verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch zu prüfen, sondern abschließend, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen. Ist die abschließende Prüfung nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen.
Nach diesen Maßstäben ist dem Antragsteller die begehrte Leistung vorläufig zuzusprechen. Denn es besteht die greifbare Gefahr, dass er bei einer Ablehnung der Leistung verstirbt, bevor das Gericht in einem Hauptsacheverfahren darüber entscheiden kann, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V in seinem Falle erfüllt sind. Dessen Dauer ist nicht prognostizierbar, zumal die Antragsgegnerin derzeit noch nicht über seinen Widerspruch entschieden hat. Jedenfalls ist – da erhebliche medizinische Ermittlungen durchzuführen wären und voraussichtlich mindestens ein Sachverständigengutachten einzuholen wäre – mit einer Verfahrensdauer von mindestens einem Jahr selbst bei beschleunigter Durchführung zu rechnen. In dieser Zeit droht aber bereits der Tod des Antragstellers. Das Gericht ist auch nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt, dass die CUSP9v3-Therapie unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist; vielmehr hat Prof. Dr. Halatsch nachvollziehbar ausgeführt, dass diese bei einigen Patienten wirksam war und sogar drei Langzeitüberlebende dokumentiert seien. Zudem führt er plausibel aus, dass die biologische Wirksamkeit auf einer abstrakten Ebene dokumentiert sei und verweist auf Einzelfallberichte von individuellen Heilversuchen. Das Gericht ist auch nicht davon überzeugt, dass der Einsatz der CUSP9v3-Therapie mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen; vielmehr hat Prof. Dr. Halatsch auch bezogen auf den Antragsteller dargelegt, dass bei diesem keine Kontraindikationen zu erkennen seien, viel-mehr Grund zu der Erwartung bestehe, dass das Fortschreiten der Glioblastom-Erkrankung durch Einwirkung auf die Grunderkrankung selbst aufgehalten werden könne. Die Ausführungen des MD im Gutachten können dies nicht entkräften: Dort ist bereits nicht dargelegt, wie die Gutachterin zu einer Ansprechrate von 0 % gelangt. Überdies werden die Nebenwirkungen allgemein ausgeführt, ohne auf die konkrete Situation des Antragstellers einzugehen.
Der Anordnungsgrund beruht auf der fortgeschrittenen Erkrankung des Antragstellers und dessen zeitlich begrenzter Lebenserwartung.
Fazit:
Die Entscheidung unterscheidet sich nicht unerheblich von den Beschlüssen, die ich (der Unterzeichner) zur Versorgung von Hirntumorpatienten mit Bevacizumab erwirkt hat. In diesen Fällen haben nämlich zuletzt das SG Duisburg unter dem 19.12.2023 sowie das SG Freiburg unter dem 18.4.2024 festgestellt, dass ein Anspruch nach § 2 Ia SGB V bestehen könnte und hierbei eine Folgenabwägung vorgenommen. Das SG Berlin hat vorliegend einen Anspruch nach § 2 Ia SGB V verneint. In einem letzten Schritt hat das Gericht dann die Folgenabwägung vorgenommen, die zugunsten des Antragstellers ausging. Das Gericht hat hierbei die von den behandelnden Ärzten vorgelegte Gutachten bewertet, ohne sich anzumaßen, die eine oder andere Einschätzung zu verwerfen. Da das Gericht nicht die Unwirksamkeit der begehrten Therapie feststellen konnte, hat es aufgrund der greifbaren Gefahr für das Leben des Antragstellers zu dessen Gunsten entschieden.
Der Antrag durch den behandelnden Arzt sollte juristisch vertieft und mit einer kurzen Frist zur Bewilligung versehen sein, damit nachfolgend der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zum Erfolg führt...