Lars Hempel
Spät erkannter Hirntumor hat juristisches Nachspiel
Patientin wollte Internistin zivilrechtlich belangen / Gericht erkannte aber keine klassische Fehldiagnose
Ingolstadt (dga)
Das Urteil ist zwar in diesem Einzelfall noch nicht rechtskräftig, stellt aber doch deutlich den Grundsatz heraus, dass der Arzt nicht unbedingt und in jedem Fall für eine · möglicherweise auch durchaus folgenschwere · Fehldiagnose zivilrechtlich haftbar gemacht werden kann. Der Mediziner schulde nämlich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung lediglich "Sorgfaltspflichten in demjenigen Umfang, der aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs erwartet werden kann".
Was unter der komplizierten Formulierung zu verstehen ist, wird konkret am Fall einer jahrelang von einer Internistin behandelten Patientin erläutert. Die Frau hatte von 1992 bis 1997 eine Vielzahl von Beschwerden geschildert, so unter anderem Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen, Kopfdruck, Ohrensausen und "therapieresistente" Schmerzen in der Leiste und im Bein. Die Fachärztin überwies ihre Patientin 1992 zum Neurologen, 1994 und 1996 zum Augenarzt und außerdem in die Schmerzambulanz eines Großklinikums.
Erst als die Frau dann im Januar 1998 über Unsicherheiten beim Gehen berichtete, veranlasste die Internistin eine Kernspintuntersuchung in einer neurochirurgischen Klinik, wo man ein Meningeom (Hirntumor) feststellte. Die Geschwulst wurde entfernt, stationäre Reha-Aufenthalte schlossen sich an.
Die Patientin reichte gegen die Internistin Klage ein und forderte Schmerzensgeld sowie Schadensersatz. Nach ihrer Auffassung hätte der Tumor bereits 1994 entdeckt und entfernt werden können, sodass ihr die nach der erst spät vorgenommenen Operation auftretenden Beschwerden (unter anderem cerebrale Anfälle und Sehminderung) erspart geblieben wären.
Eine Zivilkammer des Landgerichts wies die Klage kostenpflichtig ab. Nach geltender Rechtsprechung schulde der Arzt grundsätzlich nicht eine zutreffende Diagnose, sondern vielmehr ein "fachgerechtes Vorgehen"; und zwar deshalb, weil diagnostische Irrtümer "nicht Folge eines vorwerfbaren ärztlichen Versehens sein müssen, sondern auch Folge der Kompliziertheit der Materie". Krankheitssymptome seien nämlich keinesfalls immer eindeutig, könnten vielmehr auf "die unterschiedlichsten Erkrankungen hinweisen". Irrtümer in der Diagnose würden daher "nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gesehen"; etwa dann, wenn sich die Diagnose als völlig unvertretbare Fehlleistung herausstelle oder wenn sie auf der Unterlassung elementarer Befunderhebungen beruhe.
Ein Sachverständiger prüfte im vorliegenden Fall die Krankenunterlagen der Klägerin nach. Ihm zufolge wurden vor 1998 keinerlei Symptome geäußert, die primär auf einen Frontalhirntumor hinwiesen. Die zahlreichen von der Patientin aufgeführten Beschwerden hätten von der beklagten Internistin nur als "unspezifisch" gewertet werden können. Über migräneartige Kopfschmerzen etwa hatte die Frau schon seit vielen Jahren geklagt; außerdem stand da auch noch ein 1987 im Fitness-Studio erlittener Unfall mit einer Eisenstange im Raum, der zu einem Schädel-Hirn-Trauma geführt hatte.
Ihrer diagnostischen Sorgfaltspflicht habe die Internistin "in medizinisch vertretbarer Weise" dadurch genügt, dass sie die Patientin zur weiteren Abklärung an andere ärztliche Fachbereiche überwies (Neurologe, Augenarzt, Schmerzambulanz). Die dort erhobenen Befunde wiederum enthielten keine Hinweise auf die Notwendigkeit zusätzlicher Untersuchungen (Aktenzeichen LG Ingolstadt 3 O 180/00).
DONAUKURIER, ´´n 12.05.2001