Bei meiner Frau, jetzt 72 Jahre alt, wurde im Oktober 2012 ein 5,5cm großer Hirntumor rechts temporo-frontal festgestellt. Meine Frau ist Rechtshänderin.
Ausgangssymptomatik war ein generalisierter Anfall. Er war mit Kopfschmerzen verbunden, mit Sprachstörung. Meine Frau litt jedoch seit Jahrzehnten an Migräne mit Aura. Die Häufigkeit der Attacken hatte jedoch zugenommen bis zu einer Häufigkeit von 1-2x monatlich. Uns war aufgefallen, dass sie sich immer schlechter Termine merken konnte, auch innerhalb einer Woche. Bei mehreren Erledigungen an einem Tage fühlte sie sich zunehmend erschöpft.
Im Oktober 2012 fand eine Tumorresektion statt, mit der Diagnose Glioblastoma multiforme. Die Therapie erfolgte nach dem Stupp-Schema mit Radiotherapie und Temozolomid. Die Chemotherapie empfand meine Frau als nicht übermäßig belastend. In den Laborwerten ergaben sich nie Anzeichen für ernsthafte Blutbildungsstörungen (Leuko-Tiefstwert 3.800, Thromo 100 000) oder Leber/Nierenschädigungen. Die Strahlentherapie empfand meine Frau als psychisch sehr belastend (vom jedesmaligen Erlebnis her).
Am stärksten litt meine Frau im ersten postoperativen Jahr an Stimmungs- und Antriebs-Tiefs, die oft plötzlich eintraten und viele Stunden anhielten, wobei es allerdings zu keiner anhaltenden depressiven Verstimmung kam. Für die Stimmungstiefs macht meine Frau die Strahlentherapie verantwortlich. Der Antrieb, mit etwas zu beginnen, war jedoch konstant herabgesetzt. Ebenso groß war die Schwierigkeit, etwas Vorgenommenes zu Ende zu bringen, bedingt auch durch einen Mangel an Planungsfähigkeit.
Nach sechs Zyklen Temozolomid war der radiologische Befund noch nicht eindeutig. Man schlug ihr vor, die Therapie über sechs Monate fortzusetzen. Als in der Folge der Befund konstant war und keine Anzeichen von Tumoraktivität zeigte, machte man sie auf die Möglichkeit von negativen Folgen eines Zytosticums aufmerksam, und schlug immer wieder eine Therapiepause vor. Sie solle jedoch selbst enscheiden. Meine Frau entschied sich bis 2017 zur Fortsetzung der Chemotherapie. Die Intervalle fielen jedoch manchmal etwas länger aus.
Der betreuende Ambulanzarzt hatte aber dann nach einem weiteren völlig konstanten radiologischen Befund seit über 3 Jahren gesagt, die Entscheidung müsse jetzt klar in Richtung Therapiepause gehen.
Es kam dann zu einer Therapiepause von fast einem Jahr, mit 3- monatiger MR-Kontrolle.
Im April 2018 tauchte dann ein Rezidiv rechts temporal auf. Es bedurfte zwei längerer Aufklärungsgespräche, bis sich meine Frau zu der vorgeschlagenen Resektion entschied. Die kontrastmittelrelevanten Anteile konnten gut entfernt werden. Histologie einschliesslich Molekularbiologie wurde die Diagnose Glioblastom bestätigt.
Der Operateur hielt es aber für notwendig, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass eine Tumoraktivität besteht, kenntlich daran, dass man rückwirkend schon aus der Voraufnahme vor der Rezidivdiagnose Anzeichen so deuten konnte, und dass es jetzt noch vereinzelte Veränderungen gibt. Über die empfohlene Therapie werde man sie nach dem Tumorboard unterrichten, was aber wegen eines Feiertages für sie ausfiel. Sie wurde dann ohne ein gemeinsames Therapiegespräch entlassen.
Dieses Gespräch, nämlich über Wiederaufnahme der Chemotherapie, fand beim langjährigen Ambulanzarzt statt. Es hatte ein langjähriges Vertrauensverhältnis zu diesem Ambulanzarzt, mit dem sie auch bei der Erstdiagnose gesprochen hatte, zu der Klinik, und vor allem zu ihrem ersten Operateur, der jetzt emeritiert ist, bestanden.
Dieses Vertrauensverhältnis besteht jetzt von Seiten meiner Frau nicht mehr. Dies hauptsächlich, weil sie der Meinung ist, man hätte die Temozolomidtherapie nicht unterbrechen sollen. Auf die Argumentation über evidenzbasierte Daten und Entscheidungen durch Fachgesellschaften will meine Frau sich nicht einlassen.
Sie sagt, der einzelne Patient müsse zählen. Für sie gilt jetzt ihre generell negative Meinung über Arztpersönlichkeiten und die medizinische Wissenschaft. In ihren Augen habe man die Temozolomidtherapie absetzen wollen, um ein Rezidiv herbeizuführen, weil man dann aus einem erneuten Biopsiematerial neuere Untersuchungsergebnisse gewinnen könne, die molekularbiologischen Untersuchungen, die man 2012 noch nicht durchführen konnte, dies aber nicht im Interesse des Patienten, sondern aus Motiven von Gruppeninteressen.
Ich wünsche mir sehr, dass meine Frau das Vertrauen in die behandelnden Ärzte zurückgewinnen kann, und sehe das jetzige Verhältnis negativ. Ich bin Arzt für Allgemeinmedizin im Ruhestand, meine Frau ist Ärztin, die praktiziert hatte, bis wir Kinder bekamen, und sie hat von 1980 bis 2006 in unserer Praxis mitgearbeitet.
Mein Bemühen um die Verständigung über die Therapie meiner Frau sind fruchtlos, sie kommt dabei nicht von der Vorstellung ab, ich müsse die Ärzte verteidigen, weil ich meine Standesehre verteidigen müsse.
Die zweite Schwierigkeit besteht für mich darin, dass ich mich als Ehemann nicht in der Lage und berechtigt sehe, gegenüber meiner Frau die Schwierigkeiten in der Verständigung durch krankheitsbedingte kognitive und emotionale Störungen anzusprechen, und eine psychoonkologische Behandlung hatte meine Frau von Anfang an abgelehnt. Ich akzeptiere das auch angesichts der Tatsache, dass meine Frau eine so schwerwiegende Krankheit immer wieder in bewunderungswürdiger Weise trägt und verarbeitet.
Meine „Frage“ ist ziemlich umfangreich geworden. Die eigentliche Frage besteht in der Bitte an einen Experten, mich über den derzeitigen Standpunkt zum Umgang mit Temozolomid-Chemotherape über mehr als 6 Zyklen zu informieren, vor allem, wenn es um mehr als 5 Jahre geht.
Welche Gefahren muss man wirklich immer ernsthaft in Betracht ziehen? Ich gehe nach meiner ärztlichen Tätigkeit von der Vorstellung aus, dass man Zytostaticum unbegrenzt fortsetzt, wenn der Befund konstant „tumorfreie“ sind. Dagegen kann man beim Glioblastom immer entgegenhalten, die Lebenserwartung sei ja doch immer, zu mindestens statistisch, ganz klar verkürzt.
Jeder Augenblick ist ein Geschenk, für alle von uns, und so hoffe ich, dass wir es jeden Tag neu entgegennehmen können.