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Thema: Temozolomid off-label

Temozolomid off-label
Scardanelli
31.07.2018 11:29:35
Bei meiner Frau, jetzt 72 Jahre alt, wurde im Oktober 2012 ein 5,5cm großer Hirntumor rechts temporo-frontal festgestellt. Meine Frau ist Rechtshänderin.

Ausgangssymptomatik war ein generalisierter Anfall. Er war mit Kopfschmerzen verbunden, mit Sprachstörung. Meine Frau litt jedoch seit Jahrzehnten an Migräne mit Aura. Die Häufigkeit der Attacken hatte jedoch zugenommen bis zu einer Häufigkeit von 1-2x monatlich. Uns war aufgefallen, dass sie sich immer schlechter Termine merken konnte, auch innerhalb einer Woche. Bei mehreren Erledigungen an einem Tage fühlte sie sich zunehmend erschöpft.

Im Oktober 2012 fand eine Tumorresektion statt, mit der Diagnose Glioblastoma multiforme. Die Therapie erfolgte nach dem Stupp-Schema mit Radiotherapie und Temozolomid. Die Chemotherapie empfand meine Frau als nicht übermäßig belastend. In den Laborwerten ergaben sich nie Anzeichen für ernsthafte Blutbildungsstörungen (Leuko-Tiefstwert 3.800, Thromo 100 000) oder Leber/Nierenschädigungen. Die Strahlentherapie empfand meine Frau als psychisch sehr belastend (vom jedesmaligen Erlebnis her).

Am stärksten litt meine Frau im ersten postoperativen Jahr an Stimmungs- und Antriebs-Tiefs, die oft plötzlich eintraten und viele Stunden anhielten, wobei es allerdings zu keiner anhaltenden depressiven Verstimmung kam. Für die Stimmungstiefs macht meine Frau die Strahlentherapie verantwortlich. Der Antrieb, mit etwas zu beginnen, war jedoch konstant herabgesetzt. Ebenso groß war die Schwierigkeit, etwas Vorgenommenes zu Ende zu bringen, bedingt auch durch einen Mangel an Planungsfähigkeit.

Nach sechs Zyklen Temozolomid war der radiologische Befund noch nicht eindeutig. Man schlug ihr vor, die Therapie über sechs Monate fortzusetzen. Als in der Folge der Befund konstant war und keine Anzeichen von Tumoraktivität zeigte, machte man sie auf die Möglichkeit von negativen Folgen eines Zytosticums aufmerksam, und schlug immer wieder eine Therapiepause vor. Sie solle jedoch selbst enscheiden. Meine Frau entschied sich bis 2017 zur Fortsetzung der Chemotherapie. Die Intervalle fielen jedoch manchmal etwas länger aus.

Der betreuende Ambulanzarzt hatte aber dann nach einem weiteren völlig konstanten radiologischen Befund seit über 3 Jahren gesagt, die Entscheidung müsse jetzt klar in Richtung Therapiepause gehen.
Es kam dann zu einer Therapiepause von fast einem Jahr, mit 3- monatiger MR-Kontrolle.

Im April 2018 tauchte dann ein Rezidiv rechts temporal auf. Es bedurfte zwei längerer Aufklärungsgespräche, bis sich meine Frau zu der vorgeschlagenen Resektion entschied. Die kontrastmittelrelevanten Anteile konnten gut entfernt werden. Histologie einschliesslich Molekularbiologie wurde die Diagnose Glioblastom bestätigt.

Der Operateur hielt es aber für notwendig, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass eine Tumoraktivität besteht, kenntlich daran, dass man rückwirkend schon aus der Voraufnahme vor der Rezidivdiagnose Anzeichen so deuten konnte, und dass es jetzt noch vereinzelte Veränderungen gibt. Über die empfohlene Therapie werde man sie nach dem Tumorboard unterrichten, was aber wegen eines Feiertages für sie ausfiel. Sie wurde dann ohne ein gemeinsames Therapiegespräch entlassen.

Dieses Gespräch, nämlich über Wiederaufnahme der Chemotherapie, fand beim langjährigen Ambulanzarzt statt. Es hatte ein langjähriges Vertrauensverhältnis zu diesem Ambulanzarzt, mit dem sie auch bei der Erstdiagnose gesprochen hatte, zu der Klinik, und vor allem zu ihrem ersten Operateur, der jetzt emeritiert ist, bestanden.

Dieses Vertrauensverhältnis besteht jetzt von Seiten meiner Frau nicht mehr. Dies hauptsächlich, weil sie der Meinung ist, man hätte die Temozolomidtherapie nicht unterbrechen sollen. Auf die Argumentation über evidenzbasierte Daten und Entscheidungen durch Fachgesellschaften will meine Frau sich nicht einlassen.

Sie sagt, der einzelne Patient müsse zählen. Für sie gilt jetzt ihre generell negative Meinung über Arztpersönlichkeiten und die medizinische Wissenschaft. In ihren Augen habe man die Temozolomidtherapie absetzen wollen, um ein Rezidiv herbeizuführen, weil man dann aus einem erneuten Biopsiematerial neuere Untersuchungsergebnisse gewinnen könne, die molekularbiologischen Untersuchungen, die man 2012 noch nicht durchführen konnte, dies aber nicht im Interesse des Patienten, sondern aus Motiven von Gruppeninteressen.

Ich wünsche mir sehr, dass meine Frau das Vertrauen in die behandelnden Ärzte zurückgewinnen kann, und sehe das jetzige Verhältnis negativ. Ich bin Arzt für Allgemeinmedizin im Ruhestand, meine Frau ist Ärztin, die praktiziert hatte, bis wir Kinder bekamen, und sie hat von 1980 bis 2006 in unserer Praxis mitgearbeitet.

Mein Bemühen um die Verständigung über die Therapie meiner Frau sind fruchtlos, sie kommt dabei nicht von der Vorstellung ab, ich müsse die Ärzte verteidigen, weil ich meine Standesehre verteidigen müsse.

Die zweite Schwierigkeit besteht für mich darin, dass ich mich als Ehemann nicht in der Lage und berechtigt sehe, gegenüber meiner Frau die Schwierigkeiten in der Verständigung durch krankheitsbedingte kognitive und emotionale Störungen anzusprechen, und eine psychoonkologische Behandlung hatte meine Frau von Anfang an abgelehnt. Ich akzeptiere das auch angesichts der Tatsache, dass meine Frau eine so schwerwiegende Krankheit immer wieder in bewunderungswürdiger Weise trägt und verarbeitet.

Meine „Frage“ ist ziemlich umfangreich geworden. Die eigentliche Frage besteht in der Bitte an einen Experten, mich über den derzeitigen Standpunkt zum Umgang mit Temozolomid-Chemotherape über mehr als 6 Zyklen zu informieren, vor allem, wenn es um mehr als 5 Jahre geht.

Welche Gefahren muss man wirklich immer ernsthaft in Betracht ziehen? Ich gehe nach meiner ärztlichen Tätigkeit von der Vorstellung aus, dass man Zytostaticum unbegrenzt fortsetzt, wenn der Befund konstant „tumorfreie“ sind. Dagegen kann man beim Glioblastom immer entgegenhalten, die Lebenserwartung sei ja doch immer, zu mindestens statistisch, ganz klar verkürzt.

Jeder Augenblick ist ein Geschenk, für alle von uns, und so hoffe ich, dass wir es jeden Tag neu entgegennehmen können.
Scardanelli
Scardanelli
31.07.2018 18:12:37
Meine Frau hat die Chemotherapie mit Temodazol in der anfänglichen Dosierung von 2012 wieder begonnen. Sie bejaht diese Therapie. Danke
Scardanelli
muggel
31.07.2018 18:21:54
Wie ist ihr MGMT-Status und IDH1/2? Welche Therapie hat der behandelnde Arzt empfohlen?
muggel
brigittchen
31.07.2018 18:43:31
Ich denke, ihr ist es wichtig, selbstbestimmt zu entscheiden, wenn ihr schon der Tumor so viel von ihrer Selbstbestimmtheit im Leben genommen hat.

Ich denke, Du solltest jeden Tag mit Deiner Frau geniessen und die Dinge tun, die ihr gut tun und ihr dabei nicht ihre Defizite zu sehr aufzeigen.
Sie könnte ein Stück weit, durch ihre kognitiven Einschränkungen, krankheitsuneinsichtig sein. Das ist bei meinem Bruder genau so. Da helfen keine Argumente. Er zum Beispiel hat sich seine sichere Welt gebastelt, die so funktioniert, wie es für ihn sicher ist und beherrschbar. Von vielen Dingen fühlt er sich verfolgt, sieht Verschwörungen usw..
Ich denke, Deine Frau soll das machen an Therapie, was für sie "sicher, nachvollziehbar" ist und was sie will. Dann ist das auch eine Therapie die hilft.

Du erzählst sehr fachlich. Ich habe den Eindruck, dass Du teilweise eine ärztliche Perspektive eingenommen hast. Ich glaube, Deine Frau braucht jetzt vor allem den Ehepartner.

Ich hoffe, ich bin Dir nicht zu nahe getreten.
Herzlichst
Brigitte
brigittchen
GabrielaV
31.07.2018 19:26:28
Lieber Scardenelli, ich bin keine Ärztin, eher Halbwissende, aber bei meinem Mann wurde vor 7 1/2 Jahren ein Glioblastom entdeckt, links frontotemporal.

Das war 3/2011. Im vergangenen Jahr 9/2017 wurde ein Rezidiv entdeckt. Und in diesem Jahr 3/2018 wurde eine RE-Op durchgeführt. Seit der OP ist der Tumor regelrecht explodiert. Das histologische Ergebnis zeigte ein mutiertes therapieresistentes Glioblastom, das jetzt ins Sprachzentrum eingefallen ist und da erheblichen Schaden anrichtet.

Das nur zur Vorgeschichte, nun zur Frage:

Im November 2016 waren die Blutbilder meines Mannes ziemlich geschädigt, die Leukozyten lagen teilweise unter 2.500 /µl .Deshalb wurde der Zyklus von 4 Wochen auf 6 Wochen erweitert. Im August baten wir um ein PET- CT, weil mein Mann jetzt gern eine Therapiepause gehabt hätte. Mein Mann verzögerte die Einnahme um weitere 2 Wochen, trotz meines Vetos. Das Ergebnis war ein beginnendes Rezidiv in der Tumorhöhle.
Meiner Meinung nach war diese Verzögerung bei uns ein schwerer Fehler, vielleicht schon die ausgeweiteten Zyklen.

Diese Art von Tumor neigt dazu irgendwann zu mutieren und von einen methylierten in einen nicht methylierten Zustand überzugehen. Wenn er sich durch Mutation vor Angriffen zu schützen vermag, dann helfen keinerlei Chemotherapeutika mehr.

Man müsste jetzt wissen, ob es bereits der Fall ist, die Histo müsste das hergeben. Ansonsten könnte man mit Hilfe von Methadon versuchen, die Chemo trotzdem in die Tumorzellen einzuschleusen. Bei einigen muss das schon geklappt haben, entsprechende Berichte liegen vor.

Ich kann Deine Frau sehr gut verstehen. Ich bin ganz Ihrerer Meinung. Ich verstehe auch nicht das Stupp Prinzip. Mein Mann hat selbst in der tumorfreien Zeit Temozolomid bekommen, das habe ich durchgesetzt. Ob es weiterhin Sinn für Deine Frau macht, bleibt nur zu wünschen, aber ich würde es in Verbindung mit Methadon versuchen. Sucht nach einem Arzt, der das befürwortet. Auch wir haben mehrfach Ärzte gewechselt, bis wir die hatten, die unsere Interessen vertreten haben.

Lasst nichts unversucht, Du hast als Arzt AD die besten Voraussetzungen, das Beste für Deine Frau herauszuschlagen.

Mein Mann befindet sich in der Endphase, doch das Ende der Chemotherapie ist für mich noch nicht das Ende für den Kampf. Zunächst schöpfen wir eben die alternative Medizin aus unter Beachtung der Schulmedizin.

Ich wünsche Dir eine schöne Zeit mit Deiner Frau, mache aus der Zeit, die Euch bleibt, einfach das Beste. Fahrt in den Urlaub, geht essen, besucht ihre Lieblingsorte und macht, was Spaß macht und möglich ist. So haben wir es all die Jahre gehalten und tun das noch. Sie haben sich beide einen wunderschönen Lebensabend verdient. Qualität statt Quantität ist mein von Herzen kommender Rat.

LG Gabriela
GabrielaV
Scardanelli
04.08.2018 11:18:20
Liebe Gabriela. Vielen Dank für den Beitrag. Mir tut es schon gut, dass jemand so schnell und so augsiebig antwortet. Dein tröstender Schlussabsatz tut uns vor allem gut. Wir müssen ja vor allem dankbar sein für 5, und bei Dir 7 Jahre.
Was meine Einstellung zu Temodal angeht, so finde ich eher vernünftig, wenn man ein Zytostaticum nicht unbegrenzt weitergibt, bei gleich bleibendem unverdächtigem Befund. Ausser dass das Immunsystem nicht mehr das bleibt was es war, und der Möglichkeit von Zweittumoren ist auch vorstellbar, dass der Tumor unter dem fortgesetzten Druck mutiert..
W.Wolfgang
Scardanelli
Aziraphale
22.08.2018 11:46:49
Ich kann dazu nur sagen, was unser behandelnder Neurochirurg gesagt hat: "Ich habe das Gefühl, dass bei Patienten, die dauerhaft Temozolomid einnehmen, der Befund länger zufriedenstellend bleibt...".

Uns wurde gesagt, die Therapie könne fortgesetzt werden bis..

1. Der Tumor trotzdem wächst
2. Die Blutwerte zu schlecht sind
3. Die sonstigen Nebenwirkungen unerträglich werden
4. Aus anderen Gründen ein Stopp gewünscht wird...

Bei meinem Mann war es 3. Nach einem Jahr Therapie. Allerdings ein Astro II. Seitdem alle Befunde stabil.
Aziraphale
Tulip
22.08.2018 13:53:01
Lieber Scardanelli,
Ich hatte dir nach Deinem ersten Beitrag eine private Nachricht geschickt über die Schreibfunktion hier.
Wie geht es Deiner Frau jetzt mental in Hinblick auf die Tiefs und die Antriebslosigkeit? Hat sie wieder Vertrauen zu den Ärzten gefasst?
Tulip
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