Warum genau 60 Gy?
Bei der Bestrahlung mit Photonen sind es nicht „genau 60 Gy“ sondern „bis zu 60 Gy“.
Mir ist es möglich, die Entwicklung der Strahlentherapie mit Photonen in derselben Klinik im Laufe der Zeit von 17 Jahren zu vergleichen.
Im Jahr 2000 wurde ich nach der OP eines anaplastischen Meningeomrezidivs mit Photonen bestrahlt.
Vor den späteren mit Sicherheit auftretenden kognitiven Einschränkungen hatte ich Angst, aber ich konnte sie im Verlauf des Alltags und während meiner Arbeit gut bewältigen. Da ich wusste, dass ich u.a. Gedächtnisprobleme haben würde, habe ich mich darauf eingestellt und im Alltag und während der Arbeit „automatisch“ trainiert. Derzeit ist mein Gehirn so gut „in Übung“, dass mein Gedächtnis besser ist als das meiner früheren Kollegen und auch als das meiner bereits erwachsenen Kinder und Enkel. Ich finde es faszinierend, wie sich das Gehirn das zurück erobert, was ihm teilweise weggenommen wurde.
Im Laufe des Erstgesprächs hatte mir der Strahlenarzt bereits erklärt, dass die gesamte Strahlendosis in 30 Fraktionen = Einzelteile zerlegt wird. Dafür gibt es einige Gründe. Die Zellen eines Tumors müssen in ihrer Teilungsphase „erwischt“ werden und diese findet nicht bei allen Tumorzellen gleichzeitig statt. Die Bestrahlung an nur 5 Tagen pro Woche mit einer geringen Dosis ist schonend für die gesunden Hirnzellen, die sich in der Zeit dazwischen selbst reparieren können. Die Tumorzellen können das nicht. Die Wochenenden dienen auch der Erholung der Patienten.
Dann verließ der Arzt den Raum und kam bald darauf mit zwei Aussagen zurück: „Ihr Auge liegt nicht im Bestrahlungsbereich. Es wird mit 60 Gy bestrahlt.“ Ich fragte sofort nach, wie er diesen Wert so schnell herausbekommen hatte und er meinte, er habe es errechnet.
Zu dieser Zeit wurde die Form des Tumors noch mit Blei-Kollimatoren nachgeformt und es wurde mit dem Linearbeschleuniger aus nur einer Richtung mit der vollen Dosis von 60 Gy bestrahlt.
Die Bestrahlung war erfolgreich und mit den Spätfolgen kam ich nach langer Zeit besser klar als ich es erhofft hatte.
Im Jahr 2011 wurde nach der OP zweier anaplastischer Meningeome nur das Rezidiv mit Photonen bestrahlt. Diesmal war ich sofort neugierig und erfragte alles! Es hatte sich technisch bereits viel getan.
Es kann aus mehreren Richtungen bestrahlt werden, um den Tumor mit der optimalen Dosis pro Zelle zu treffen und das gesunde Gewebe besser zu schonen. Die Bezeichnungen dafür sind VMAT = Volumetric Modulated Arc Therapy = Intensitätsmodulierte Bogenbestrahlung = Rapid Arc. Dabei bewegt sich der Linearbeschleuniger, der nun den Namen LINAC trägt, so um den Patienten herum, dass der Tumor in jeder Richtung computergestützt nachgeformt wird.
Die Berechnung der Strahlendosis erfolgt mit dem Computer. Es ist möglich, dass die Physiker für jeden kleinen Tumorbereich und dessen Umgebung ermitteln, wie hoch die Strahlendosis dort sein muss. Ich habe mir das Blatt mit den farbig eingezeichneten Linien ausdrucken und erklären lassen. Es sind nicht überall 60 Gy. Für mehrere Bereiche genügen geringere Strahlendosen, die in mehreren Abstufungen ermittelt werden.
Es wird also mit „bis zu 60 Gy“ bestrahlt.
Möglich wird das durch den computergestützten Ablauf jeder einzelnen Bestrahlung. Das Gerät beginnt erst dann, wenn alles völlig sicher für den Patienten ist. Die Bezeichnung für diese optimal abgestufte Bestrahlung des Tumors ist IMRT = Intensitätsmodulierte Radiotherapie.
Im Jahr 2017 erfolgte die Bestrahlung eines neuen atypischen Meningeoms, das zuvor nicht vollständig entfernt werden konnte. Es lag zu nah an einem Sehnerven und dieser sensible Bereich musste während der Photonenbestrahlung geschützt werden. Durch VMAT und IMRT war die Bestrahlung viel sicherer geworden. Jedoch die gesunden eloquenten Bereiche (die besondere Funktionen haben) dürfen möglichst nicht geschädigt werden, um die Lebensqualität nicht zu beeinträchtigen.
Ich erkundigte mich zusätzlich per E-Mail bei weiteren vier Chefärzten der Strahlentherapien anderer Kliniken, wie hoch die Strahlendosis für den Sehnerv und für die Augenlinse sein darf. Einheitlich bekam ich die Antworten, dass die Augenlinse nur 10 Gy aushält. Dieses Risiko würde man eingehen, wenn es nicht anders geht, denn die Folge wäre eine etwas früher als normal eintretende Trübung der Augenlinse. Die Operation dieses „Grauen Stars“ wird von den Augenärzten mittlerweile sehr oft erfolgreich und meist ambulant durchgeführt. Der Sehnerv verträgt schadlos 54 Gy.
Das konnte bei der Bestrahlung berücksichtigt werden. Durch die IMRT wurde der Sicherheitsbereich, in dem sich Tumorzellen befinden, in Richtung zum Sehnerv von 2 cm auf 1 cm verkleinert. Innerhalb dieses Bereiches wurde abgestuft mit „bis zu 54 Gy“ bestrahlt.
Die fraktionierte Bestrahlung mit VMAT ermöglichte die Bestrahlung aus verschiedenen Richtungen, um das gesunde Gewebe zu schonen.
(Mit Protonen und Schwerionen ist die IMRT wohl nicht möglich. VMAT funktioniert heutzutage mit jedem Bestrahlungsgerät.)
Die Frage zielt darauf ab, insgesamt mit einer geringeren Strahlendosis das gesunde Hirngewebe noch besser zu schonen und damit dasselbe PFS = progression-free survival = Progressionsfreies Überleben zu erreichen.
Dabei bedeutet PFS nicht das Ende des Lebens, sondern die Zeitdauer, bis ein Rezidiv entsteht.
Ich habe vor vielen Jahren auf Hirntumorinformationstagen Experten gehört, die dieses Thema besprachen und mit den Patienten diskutierten.
Es war von einer Tumorentfernung noch weiter über den Tumor hinaus die Rede, was in Frankreich getestet wurde, aber kein längeres PFS erbrachte.
Es wurden höhere Strahlendosen bis 75 Gy für die Bestrahlungen des Gehirns erprobt, jedoch waren diese für das gesunde Gehirn zu hoch. Möglich wäre es gewesen, denn andere Organe vertragen diese höhere Strahlendosis.
Eine niedrigere Strahlendosis oder eine noch kleinere Tumorentfernung wurden gar nicht diskutiert, denn das ist bei bestimmten individuellen Lagen des Hirntumors sowieso nur möglich und mit einer höheren Rezidivgefahr verbunden.
Ich selbst habe damit wegen der „nur Teilentfernung“ des „nur“ atypischen Meningeoms und der geringeren Strahlendosis mit dem verkleinerten Sicherheitssaum bis heute zu tun. Auch mit einem atypischen Meningeom in einer Ohrspeicheldrüse, die als Strahlenspätfolge im Jahr 2023 entfernt wurde und von den Neurochirurgen als Metastase bezeichnet wird. Und Meningeome sind keine hirneigenen Tumoren. Das muss wirklich nicht jedem passieren. Aber noch bis 2016 konnte ich sehr guten Gewissens bestätigen, dass der Bestrahlung von entfernten, teilentfernten oder nicht operablen Meningeomen kein Rezidiv folgt. Das ist fast immer so. Aber sogar bei diesen „Hirnhaut-Tumoren“, die nicht als Krebs gelten, gibt es Ausnahmen, auch hier im Forum.
Worum geht es eigentlich? Das gesunde Gehirn soll mit einer geringeren Strahlendosis besser geschont werden.
Oder die Dauer der fraktionierten Bestrahlung soll von 30 auf 20 Tage verkürzt werden, indem täglich mit 3 Gy statt mit 2 Gy bestrahlt wird.
Palliative Bestrahlungen mit kürzeren Zeiten und geringeren Strahlendosen sind immer Rezidiv-Bestrahlungen, bei denen mit einer „normal hohen“ Strahlendosis von noch einmal „bis zu 60 Gy“ die Lebensqualität zu sehr eingeschränkt wird, um den Tumor zu vernichten.
Mit jeder nicht notwendigen Verkleinerung der Resektion und der Strahlendosis steigt das Risiko für das PFS.
Wenn deswegen ein Rezidiv eines Hirntumors entsteht, dann könnte man ihn operieren.
Man könnte gegen hirneigene Tumoren erneut eine Chemotherapie beginnen, bei Meningeomen nicht.
Man könnte dieselbe Stelle erneut bestrahlen, denn das Rezidiv eines hirneigenen Tumors ist wieder dieser hirneigene Tumor eines vielleicht höheren Grades. Diese Rebestrahlung hätte deutlich mehr Risiken im Tumorgebiet und um es herum. Die Therapien würden immer aufwändiger werden. Es gibt einige Betroffene in diesem Forum.
Was würde man mit dieser Schonung des gesunden Hirngewebes eigentlich erreichen?
Im gesunden Hirngewebe könnte durch die Bestrahlung nach zehn bis zwanzig Jahren mit einer wenig höheren Wahrscheinlichkeit als in der Normalbevölkerung, also sehr selten, ein „Meningeom“ entstehen. Dieses würde in den Langzeitkontrollen rechtzeitig erkannt, als späte Strahlenfolge definiert und meist erfolgreich entfernt werden.
Innerhalb dieser Jahrzehnte könnten hirneigene Tumoren längst ihre böse Chance genutzt haben, mit Rezidiven das PFS zu verkürzen, womit die Lebensqualität eingeschränkt und die Lebensdauer verkürzt wird.
Ich glaube, das ist es nicht wert.
KaSy
PS (an Mego13): Geht es bei der Studie NOA 18 = "Improve Codel" nicht nur darum, die Radiotherapie bei Oligodendrogliomen Grad II oder III, die eine Co-Deletion von 1p/19q aufweisen, zu verzögern, also später zu beginnen? Ich glaube, um eine Verkleinerung der Strahlendosis geht es dabei nicht, oder?