Norjo77
Zeit
Von dem Zeitpunkt an an dem ich meine Diagnose bekam, veränderte sich mein Verständnis von Zeit ziemlich dramatisch. Was ist Zeit? Wieviel habe ich? Wann fängt ein Tag an und wann kann ich zufrieden sein und einen Tag mit gutem Gewissen beenden?
Am Anfang meiner Reise wollte ich soviel Leben wie möglich in jeden Tag packen. Erlebnisse. Erinnerungen schaffen. Eine Liste erstellen über all die Dinge die ich erleben wollte bevor ich sterbe und diese systematisch durcharbeiten. Es war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, aber ich setzte mich einem fürchterlichen Stress aus. Ich glaube Angst und Panikanfälle die mich zeitweise heimsuchten, waren das direkte Ergebnis daraus.
Ich denke es ist eine natürliche Reaktion. Das Leben wurde plötzlich soviel kürzer als ich ursprünglich angenommen hatte. Mögliche 40 Jahre wurden zu 3 Jahren, vielleicht auch 4. Der Wunsch soviel wie möglich von dieser Differenz in der kürzest möglichen Zeit zu leben...war überwältigend. Angst, Erschöpfung und Verzweiflung waren das Ergebnis.
Zeit ist nicht die Sekunden, Minuten und Stunden die auf meiner Armbanduhr dahin tickern.
Zeit ist nicht die Anzahl Erlebnisse die ich in einen Tag packen kann. Zeit ist nicht etwas konkretes das ich messen kann.
Nicht in meinem Leben.
Nicht mehr.
Zeit ist ein freies, fließendes Element daß meinem Leben folgt wie ein kristallklarer Bach einem Pfad folgt. Munter plätschernd in einem sommerlichen Laubwald. Ruhige Passagen werden abgebrochen durch kleine Wasserfälle. Kleine Dämme erzeugen Teiche und kleine Seen. Ich sehe es. Ich höre es. Ich fühle es in der Luft.
Aber ich gehe nicht im Wasser. Ich folge dem Pfad. Wo das Wasser ständig in Bewegung ist, kann ich mir hin und wieder eine Pause genehmigen. Kann ich mich hinsetzen und durchatmen. Nehme tiefe Atemzüge und genieße einen Augenblick der Stille in einem Leben das niemals still steht.
Sowohl der Pfad als auch der Bach, führen zum Meer und enden dort. Das ist weder falsch noch gefährlich. So ist das Gesetz der Natur. Und ich konnte meinen Pfad nicht wählen, aber es war und ist an mir zu entscheiden ob ich rennen, joggen oder schlendern möchte.
Ich schlendere und mache das beste aus diesem Spaziergang. Mache Pausen unterwegs und genieße alle diese kleinen Details die ich links und rechts des Weges wahrnehme.
Von dem Zeitpunkt an an dem ich meine Diagnose bekam, veränderte sich mein Verständnis von Zeit ziemlich dramatisch. Am Anfang meiner Reise stand ich an einem Wasserfall. Stress, Kaos und Turbulenzen. Mein Leben heute ist weiter unten im Tal. Das Wasser ist ruhiger, tiefer, in einem Zustand der Harmonie mit seiner Umgebung.
Ich hab aufgehört zu rennen, ich hab's nicht eilig.
Ich sitze an einem See, ein Becher Tee in meiner Hand.
Und meine Zeit steht still.
Von dem Augenblich an in dem der Krebs in meinem Leben seinen Einzug hielt, fühlte ich das die Uhren schneller liefen. Das taten sie natürlich nicht wirklich, aber es fühlte sich so an. Statt 20 weiterer Jahre mit arbeiten und 25 oder mehr als Rentner sah es plötzlich so aus als müsste ich mit sehr viel weniger Zeit rechnen. Zeit, in welcher ich gegen den Krebs, Fatigue und Angst zu kämpfen hätte.
Also fing ich an mich vorwärts zu zwingen. Ich war "positiv" und "stärker als ich glaubte sein zu können." Ich tat mein möglichstes um 45 Jahre in die ersten drei Jahre nach der Diagnose hinein zu drücken. Und hier fingen meine Probleme an...
Ja, es gibt Menschen die so etwas hinbekommen. Aber diese sind die Ausnahme, nicht die Regel. Die meissten Menschen die so etwas versuchen, so behaupte ich, fallen flach auf die Nase. So wie ich das tat. Aber wegen der Art und Weise wie wir über "erfolgreiche Krebspatienten" reden und diesen ständigen Phrasen die auf Positivitet und Stärke zielen, fühle ich das ich im Prinzip von Anfang an zum scheitern verurteilt war. Von meinem Umfelt darauf programmiert. Und für jedes mal wenn ich mich zwingen wollte vorwärts zu drücken und es ging nicht...fühlte ich mich mehr und mehr wie ein Verlierer.
Positivitet ist gut. Stärke schadet nicht. Aber weder das eine noch das andre für sich genommen kann uns sagen wie es weitergehen soll wenn die Uhr tickt wie blöde und wir fühlen das uns die Zeit davonläuft.
Ich weiß nicht was plötzlich anders war. Vielleicht wollte ich einfach nur die Uhr anhalten. Nur für einen Augenblick. Aber eines Tages, ich saß im Wohnzimmer und trank Tee, passierte es. Ich tat nichts besonderes, aber das tat ich bewusst. Und während ich das tat, legte Harmonie sich über den Raum wie eine liebevolle Umarmung.
Wenn ich diesen Augenblick als Offenbarung bezeichne dann übertreibe ich nicht. Ich verstand plötzlich, das ich keine zehn Erlebnisse in einen Tag zwingen musste um das Gefühl zu haben das ich den Tag gut gelebt habe. Ein Erlebnis, zwei Erlebnisse oder auch mal keines waren völlig ausreichend. Solange ich sie wirklich bewusst erlebte.
Die Uhr tickt, Sekunde für Sekunde, das ist was sie tut. Aber mein Leben nach der Diagnose ist soviel besser geworden seit ich unnötigen Stress und Drama daraus vertrieben habe. Mir die Zeit gönne mich hinzusetzen. Die Kunst zu erlernen...
...nichts besonderes zu tun.
Mein Nangijala
Nangijala ist die Welt der Lagerfeuer und der Abenteuer so wie Astrid Lindgren sie in ihrem Buch "Die Brüder Löwenherz" beschrieben hat.
Nachdem mir gesagt wurde das ich meinen Krebs nicht überleben würde, versuchte ich meinen Tod vorzubereiten so gut es eben ging. Gespräch mit dem Arzt, mit der Familie. Den Freunden. Nachdem das praktische erledigt war, begann ich darüber nachzudenken wie mein Himmel sein sollte. Ich suchte nach einem Bild und fand meinen Weg zurück zu einem Buch das ich als Kind gelesen hatte.
Dieses Buch, von Astrid Lindgren. Die von Ihr erdachte Welt, so fühlte ich, war die Welt für mich.
Die Landschaft in der ich aufwachen werde, ist ein Wald voller alter, ehrwürdiger Laubbäume. Die Sonne senkt sich langsam und der Geruch eines Sommerabends liegt in der Luft.
Ich höre freudiges Bellen und das Geräusch ist so bekannt, so vertraut, Tränen reiner Freude laufen meine Wangen herunter. Durch die Bäume laufen meine Hunde auf mich zu und nun laufen wir gemeinsam, wie wir es früher sooft getan haben, durch den Wald und in ein neues Leben.
Gemeinsam erreichen wir eine offene Hügellandschaft und ich sehe ein kleines Bauernhaus,
nur ein paar hundert Meter entfernt. Unser neues zuhause.
Daneben ein zweites Gebäude, ein kleines Gasthaus, und ich weiß es ist der Platz an dem ich Reisende bewirte und Abends mit Nachbarn und Bekannten sitze. Wir singen, wir tanzen und wir sind glücklich.
Ich weiß das andre Bauernhäuser in der Nähe sind, verteilt zwischen den Hügeln. Ich weiß es gibt ein kleines Städchen, nur einen Tagesmarsch entfernt. Ich weiß es gibt Berge zu besteigen, Menschen zu treffen und Abenteuer zu bestehen... aber ich habe mein kleines Paradies. Ein Ruheplatz für den der vorbeischaut. Ein sicherer Hafen wo der müde Wanderer sich ausruhen kann. Warten kann, auf die Lieben die noch in der anderen Welt sind.
Mein Nangijala. Mein Himmel.
21. Februar
Der 21. Februar 2014 war der Tag an dem ich starb, auch wenn ich es damals nicht wußte.
Der 21. Februar 2014 war der Tag meiner Wiedergeburt, auch wenn es eine Weile dauerte das zu erkennen.
Ich wusste das ich Krebs hatte, bevor der Arzt es mir sagte. Es fühlte sich so erschreckend richtig an es zu denken. Aber als es dann offiziell wurde, das war dann doch etwas anderes. Der ernste Blich des Arztes. Der Pathologie Befund auf dem Tisch. Gehirntumor. Glioblastoma. Grad 4. Schade.
Ich starb, und ich wurde wiedergeboren. Die Worte des Arztes im einen Ohr, ("Glioblastoma, Sie werden leider nicht alt werden mit dieser Diagnose" und die Worte eines anderen Patienten den ich zufällig traf im anderen Ohr ("Es muss eine bewusste Entscheidung sein ob man leben möchte oder nicht").
Ich konnte damals mit keiner dieser Kommentare umgehen. Verstand Sie einfach nicht...
Der erste Kommentar war dann doch einfacher zu verstehen. Ich schrieb die Diagnose ins Suchfelt bei Google und drückte auf "Enter". Glioblastoma...aha...scheiße. Die Goldene Arschlochkarte der Krebsdiagnosen und ich hatte sie gezogen. Toll! #Ironie #Verzweiflung
Der zweite Kommentar war schwieriger. "...ob man leben möchte oder nicht." Was für eine dumme Bemerkung. Wer möchte denn nicht leben?" So dachte ich in meiner Unschuld. Das war ganz am Anfang. Vor Chemo. Vor Strahlung. Vor dem ersten Kontroll MRT und der grausamen Wartezeit auf das Ergebnis. Die ersten Jahre speziell waren schlimm. Gerade wegen der Ernsthaftigkeit der Diagnose wartete ich konstant auf einen Rückfall. Jedes zucken im Körper, jeder Schmerz, jedes merkwürdige "anders sein" ließ mich an einen neuen Tumor denken. Angst erzeugt mehr Angst. Verzweiflung gebiert Verzweiflung. Die ersten 3 Jahre waren eine Zeit der Wiedergeburt. Das alte Ich starb. Der naive Kerl der glaubte ewig zu leben. Der sich über Kleinigkeiten aufregte. Er ging und das neue ich wurde geboren.
Ich treffe eine bewusste Entscheidung zu leben. Heute, so wie ich gestern diesselbe Entscheidung traf. Glioblastoma oder nicht, ist es der einzige Tag der sicher ist. Deshalb lebe ich es, so gut ich kann. Freue mich über Kleinigkeiten. Lache, weil es mir gut tut. Lächel einen Fremden an, weil es mir Spaß macht. Tanze durch den Supermarkt weil ich das Leben feire.
Lebe in vollen Zügen, weil ich mich dazu entschieden habe. Das alte ich ist verschwunden, das neue lebt. Geboren voll Hoffnung aus einer Diagnose die eigentlich keine hat. Hurra, sage ich... Hurra für den heutigen Tag!