Liebe Tonton,
ich finde es sehr schön, daß Du Dich hast für drei Monate von der Arbeit freistellen lassen, um Deine Mutti zu Dir zu nehmen und Dich um Deine Mutti kümmern zu können. Kannst Du Dir denn wenigstens noch eine "pflegerische Unterstützung" holen, weil neben dem seelischen Aspekt ist auch die körperliche Anstrengung nicht zu unterschätzen. Das Umlagern und Umbetten ist schon ein ziemlicher Kraftaufwand.
Bereits am 18.07.2013 hatte ich Dir ja meine Geschichte dazu geschrieben, wie das bei meiner Mutti war. Nur das die Hirnblutung bei ihr von einer Minute auf die andere passierte, ohne irgendwelche Vorzeichen. Von dem Moment an habe ich mit meinem Sohn und meiner Cousine jede Minute bei ihr am Bett verbracht. Das würde ich auch immer wieder so machen. Ich möchte mich hier an dieser Stelle diesbezüglich auch nicht noch mal so ausführlich wiederholen. Du kannst es ja noch einmal nachlesen, wenn Du möchtest.
Aber - eines möchte ich Dir aus leider mehrfach gemachter Erfahrung sagen, so schlimm und schmerzlich es ist, den/die geliebten Menschen leiden sehen zu müssen und doch nicht helfen zu können, ist es für den Betreffenden eine ganz große Beruhigung, zu spüren, daß sie nicht allein sind. Auch für die eigene Seele ist es gut, ich habe immer eine so tiefe innere Liebe, Geborgenheit und Frieden gespürt, was sich dann auch später in einen Trost für mich gewandelt hat. Das braucht aber auch alles seine Zeit und ist auch jedes Mal und bei jedem anders. Z. B. habe ich eine Kollegin, deren Mutti ist im Februar mit 64 Jahren an Krebs verstorben. Die Familie wurde ins Krankenhaus bestellt und alle waren da. Aber als die Mutti gespürt hat, daß es zu Ende geht, hat sie alle weggeschickt und sie waren gerade zu Hause angekommen, da rief das Krankenhaus an, daß die Mutti eingeschlafen ist.
Das meinte ich auch in meinem Beitrag vom 18.07., es gibt auch Menschen, die möchten auf ihrem letzten Weg alleine sein. Aber das spürt man als Angehöriger oder sie teilen es einem auch mit und ich finde, das zu akzeptieren, ist auch ganz wichtig für den Betroffenen, weil, es geht um ihn und nur um ihn!!!
Wie auch Gramyo schreibt, in Bezug auf den Blick Deiner Mutti, versuche doch zu ergründen, was er ausdrückt. Wirkt er traurig, hilflos oder möchte sie etwas ausdrücken. Kann Deine Mutti sprechen? Sprich mit ihr, erzähle ihr - vielleicht verrät Dir ja ihre Mimik, was sie fühlt oder bewegt. Meine Mutti hat dann, obwohl sie gar nicht bei sich war, plötzlich mit ihrer Hand, die nicht gelähmt war, auf der Bettdecke nach meiner Hand gesucht, die ich ihr dann auch gegeben habe. So habe ich dann stundenlang an ihrem Bett gesessen. Wenn ich mal nicht mehr konnte, dann hat sie unser Sohn gehalten.
Was auch für Schwerkranke sehr hilfreich ist, hier meine ich nicht nur Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, sondern auch die genesen können. Man muß ihnen etwas in die Hand geben. Das kann ein kleinen griffiges, geschmeidiges Kuscheltier sein oder ein kleiner weicher Ball, etwas, was mit einer Hand gut gehalten werden kann. Das vermittelt den Kranken das Gefühl, daß sie nicht alleine sind und sich an etwas "festhalten" können bzw. gehalten werden. Meine Kollegin war vor ca. 15 Jahren auch an einem Hirntumor erkrankt, ich habe mich schon kurz nach der OP um sie gekümmert und ihr damals ein kleines Kuscheltier in die Hand gegeben. Sie hat es selbst nicht gemerkt, aber sie hat sich daran "festgehalten" und es auch gesucht, wenn es einmal nicht da war. Das haben mir die Ärzte dann auch später auf der ITS erzählt. Die gleichen positiven Erfahrungen habe ich bei meiner Schwiegermutti (hier war es ein kleiner Teddy) und bei meiner Mutti (hier war es ein kleiner Hund, der sie bis zu letzt begleitet hat und nun bei mir sitzt). Es kehrte immer eine gewisse Ruhe ein, ohne großes Zutun von außen.
Nun zu Deiner Schwester. Wahrscheinlich kann sie mit der Situation nur sehr schwer umgehen. Und das sie immer wieder erwähnt, wie schwer das alles ist, ist wahrscheinlich irgendwie ein Schutzschild, was sie sich aufgebaut hat zu ihrer eigenen Sicherheit. Jeder geht auch mit solchen "Ausnahmesituationen" ganz anders um. Wenn aber dann trotzdem alle füreinander da sind, dann ist es auch in Ordnung - nach dem Motto: "Einer trage des anderen Last".
Liebe Tonton, Du wirst das ganz bestimmt schaffen und ganz im Sinne Deiner Mutti machen. Nutze die Zeit, die Euch noch bleibt, egal wie. Wenn es noch geht, erzählt Euch viele Dinge, alte oder neue, vollkommen egal. Seid einfach zusammen. Hör einfach auf Dein Herz!!! Es zeigt Dir den Weg!!!
Und vergiß bitte eines nicht - denk bitte auch an Dich, das ist nicht egoistisch, denn nur wenn es Dir gut geht, seelisch und körperlich, kannst Du für andere da sein!!!
Ganz liebe Grüße an Dich.
Andrea