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Sawhoopee

Ich möchte Euch einen Auszug aus dem Buch von Stephan Levine "Sich öffnen ins Leben" geben. Denn er beschreibt für mich sehr gut, wie meine Erfahrung mit meinem Mann war, der am 30.03.17 leider von mir ging.


Wenn wir loslassen, bleibt nur Liebe

Martine

Er war ihr Psychologe, der Martines Ehemann Frank vorgeschlagen hatte, uns anzurufen. Martine hatte Krebs, und es ging zu Ende. Ihr Gehirntumor führte dazu, daß sie manchmal recht desorientiert war. Nachdem Frank und ich uns eine zeitlang unterhalten hatten, gab er den Hörer an Martine weiter. Sie benutzte einfache Sätze, mit langen Pausen zwischendurch, und ihre Stimme klang ein bißchen wie die eines Kindes, das sich verlaufen hat. Beim Sprechen merkte ich sofort, daß sie alles, was mit Abstraktionen oder Begriffen zu tun hatte, so gut wie gar nicht verstehen konnte. Aufgrund des Tumors waren ihre Schaltkreise blockiert, ihre analytische Fähigkeit war nach und nach verschwunden. Weil sie nicht in der Lage war, "all dies zu begreifen", wie sie es in der Vergangenheit konnte, bliebt nur die Liebe. Frank drückte es so aus: Ich würde nicht sagen, daß sie ihren Verstand verloren hat, sie hat etwas Besseres gefunden." Wir sagten Frank, wir würden uns gern mit ihm und Martine treffen, aber nachdem wir mit ihr gesprochen hätten, glaubten wir nicht, daß sie etwas von uns "lernen" müsse. Ihre Arbeit sei nun eine Sache des Herzens, und alles, was die beiden nun bräuchten, sei "Zeit füreinander". Wir schlugen ihnen vor, an einem bevorstehenden Workshop in ihrer Gegend so teilzunehmen, wie sie es für richtig hielten.
Zwei Wochen später kamen Martine und Frank zu einem unserer Workshops für "Bewußtes Leben/Bewußtes Sterben".
Frank sprach als erster: "Von Zeit zu Zeit bin ich unheimlich tapfer, und manchmal geht es mir sogar ganz gut. Ich rede mit vielen Menschen, die mir hierfür viel Kraft geben, aber oft weiß ich nicht, was ich tun soll, und es kann so schnell vorbei sein."
Er erzählte weiter von seiner und Martines Geschichte: Wie Martine einige Jahre zuvor einen Knoten in ihrer Brust gefühlt hatte und sich all den medizinischen Prozeduren, die man ihr anbot, unterzog, bis sich am Ende ein zweiter, von ihrer Brust ausgehender Tumor im Gehirn festsetzte, und die Ärzte meinten: "Ab jetzt können wir wenig für Sie tun."
Frank: "Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. So viele Freunde sind für uns da gewesen. Und es hatte den Anschein, als ob wir diese Krankheit in ihrem Körper in den Griff bekommen könnten, aber als das Gehirn betroffen war, änderte sich die Situation. Wenn wir z.B. bei Freunden waren und sich die Unterhaltung verzweigte, saß Martine einfach nur mit ausdrucksloser Miene da, und ich wußte, sie verstand nicht, was wir sagten. Zuweilen sagte sie dann etwas, das nichts mit dem zu tun hatte, worum es ging, und ich saß da und riß mich zusammen. Es verunsicherte mich sehr, daß wir gelegentlich unsere Fähigkeit verloren, miteinander zu reden. Das war für uns beide immer so eine Wohltat gewesen, wenn die Zeiten schwer gewesen waren. Es hatte auch in der Vergangenheit schon Momente gegeben, wo sie wegen der Medikamente für ihre Operationen und wegen der Behandlungen, die sie über sich ergehen lassen mußte, so abwesend gewesen war, daß sie das, was ich sagte, nicht verstehen konnte, daß sie nicht gut sprechen konnte, aber das war etwas anderes. In manchen Momenten war sie bei vollem Verstand, in anderen verstand sie nicht, was um sie herum vor sich ging. Und zuerst machte es uns beiden Angst. Besonders für Martine war es unglaublich schwer. Ihr Verstand reagierte nicht so, wie man es von ihr erwartete. Sie verlor langsam die Kontrolle über ihre Sprache, und sie erinnert sich an so vieles nicht mehr. Und je häufiger das passierte, desto fassungsloser und nervöser wurden wir. Es war wie im Irrgarten - wir bewegten uns im Kreise. Wenn sie bei klaren Sinnen war, sorgten wir uns über ihre "Verwirrtheit", und wenn sie verwirrt war, fühlten wir uns wie zwei kleine Lichtkreise, die aus irgendwelchen Gründen nicht zueinander kommen konnten. Ich fühlte mich sehr allein, und ich denke, ihr ging es ebenso.
Dann, eines Nachts, als wir wieder einmal versuchten, all das zu verstehen, hörte Martine einfach auf, richtete ihren Kopf auf, als ob sie an die Decke schauen wollte, und wurde sehr, sehr ruhig. Es war, als ob sie an Gott denken würde. Sie verließ das Zimmer, ging in die Küche, und nach zehn Minuten kehrte sie zurück, und sie war so klar wie der Klang einer Glocke. Sie hatte etwas hinter sich gelassen. Seitdem scheint sie den Tod zu akzeptieren, und das ist etwas, was mir vorher nie in den Sinn gekommen ist. Indem wir die Verwirrtheit akzeptierten, machten wir den ersten Schritt, den Tod vollkommen zu akzeptieren, und das war eine totale Umkehr, eine vollkommen neue Weise für mich, ihn zu sehen.
Seitdem, von wenigen Malen abgesehen, war sie wirklich klar, sie wußte sogar, wenn sie verwirrt war. Es kommt nur manchmal vor, daß sie sagt: "Hm, ich glaube, ich denke nicht klar." Und dann sitzt sie da und grübelt, und es gelingt ihr nicht, herauszubekommen, was klar denken in diesem Moment bedeuten könnte. Und dann guckt sie mich an und sagt: "Ich werde nicht sterben, ich liebe dich so sehr." Und in solchen Momenten, trotz aller Verwirrung, entsteht eine andere Klarheit."
Während Frank die Geschichte ihrer letzten beiden gemeinsamen verbrachten Jahre mit uns teilte, antworteten die hundert oder mehr Menschen in unserer Gruppe fast geschlossen mit einer Welle warmer Traurigkeit. Während er die Geschichte erzählte, konnte man förmlich spüren, wie die Gruppe von Mitleid für Martine davongetragen wurde. So ging das ein paar Minuten weiter, bis ich bemerkte, daß sich fast alle dem Gedanken hingegeben hatten, Martine sei ein Opfer, und ich fragte sie, ob sie sich auch beteiligen wolle.
Martine: "Es ist eine merkwürdige Situation. Ich bin immer so gesund gewesen. Ich hatte niemals Grippe, kaum mal eine Erkältung. Vor ungefähr einem Jahr ging es mir psychisch nicht so gut, aber nach fünf Sekunden oder so war das wie weggeblasen. Ich nahm fünfzig Vitamine pro Tag, und ich war fest davon überzeugt, daß ich mich kurieren könnte, aber anscheinend ist mir das nicht gelungen, und nun werde ich sterben. Und jetzt ist es manchmal wie hier auf dem Seminar: Ich war die letzten Stunden anwesend, und ich weiß dennoch nicht, was passiert ist. Manches habe ich zwar verstanden, aber oft genug sind die Worte einfach an mir vorüber gegangen.
Aber es gibt etwas, was ich gerne zu Ihnen allen sagen würde. Könnten Sie mir bitte alle Ihre Aufmerksamkeit schenken. Wichtiger als alles andere ist: Seien Sie freundlich zu den Menschen, denn es kann so schnell zu Ende gehen. Es ist so wichtig, einander zu lieben und einander zu helfen. Darum geht es eigentlich. Und wissen Sie was? Mit mir geschieht im Moment etwas Wunderbares. Jetzt kann ich allen Menschen sagen, daß ich sie liebe, und das ist einfach wunderbar, denn ich habe das seit zweiunddreißig Jahren in mir gehabt. Ich hatte das Bedürfnis, allen zu sagen, ich liebe sie, aber ich hatte Angst davor. Es gab nur sehr wenige Menschen, denen ich es sagen konnte. Und jetzt macht das nichts aus, ich kann es Ihnen allen sagen."
Ich wandte mich der Gruppe zu und fragte: "Fühlen Sie jetzt Mitleid mir ihr? Sie hat eine Perspektive erlangt, für die viele Menschen alles geben würden. Sie befindet sich an einem außerordentlichen Punkt. Sie kann sich nicht mehr auf ihren Verstand verlassen. Sie kann nicht mehr gerade gehen, aber ihr Herz steht weit offen. All die Arten, an die der Verstand gewöhnt ist, festzuhalten, sich zu schützen und zu verstecken sind nicht länger möglich. Man könnte sagen, daß sie frei ist, denn sie muß die Welt nicht mehr verstehen. Alles, was sie tun muß, besteht darin, in der Welt zu sein. Im Moment passiert ihr, daß sie nicht mehr mit Begriffen verstehen kann, die sonst unser Bollwerk gegen die Welt sind. Der Geist filtert alles, aber ihr Filter funktioniert nicht mehr. Sie erlebt das Leben unmittelbar. Sie erlebt das Leben nicht wie die meisten Menschen als einen Nebengedanken, als eine Idee davon, was geschieht. Sie ist das Geschehen selbst. Sie existiert nicht in einem Reich, in dem alles seinen Namen, seinen Platz und seine Kategorie hat, so daß wir es nie unmittelbar erleben. In gewisser Weise reflektiert ihr wahres Wesen die Offenheit des Herzens. Das soll nicht bedeuten, daß es nicht immer noch einen Ort in ihr gibt, der klar sein möchte und manchmal sagt: "Oh, wie herrlich, ich habe einen klaren Moment." Aber das geschieht nur, wenn "Der Geist wieder am Rumoren ist". Denn wie sie sagt "wenn er das Bewusstsein verliert, verliere ich es mit ihm".
Paradoxerweise fühlt sie sich nur dann schlecht, daß sie manchmal nicht ganz da ist, wenn sie ein wenig "Klarheit" über sich selbst als eine gesonderte Existenz hat. Unsere Klarheit wird viel zu sehr überbewertet. Wir alle tragen alte Gewohnheiten mit uns herum, klar sein zu müssen, verstanden zu werden, und diese alten Konditionierungen funktionieren immer noch, scheinen aber an Macht zu verlieren. Bis zu dem Grad, in dem dieses Konditionieren funktioniert, bereitet es ihr Schmerzen. Und wenn das vergeht, wäre es ihr völlig gleichgültig, ob sie Sie nun verstehen kann oder ob Sie sie verstehen können oder nicht. Und das sind die Momente, in denen sie frei ist. Man könnte sagen, daß sie "die Fesseln der Begriffe" gesprengt hat, denn es ist unser ständiges In-Begriffe-Fassen, unsere Verwandlung der Welt in ein Konzept, was uns davon abhält, in der Welt zu leben und sie unverfälscht zu erfahren - direkt zu berühren, zu riechen, zu hören, zu sehen, das Leben zu schmecken. Es sind unsere Konzepte, die uns das Leben denken lassen, anstatt es zu leben. Die uns immer gerade außer Reichweite des Augenblicks stehenbleiben lassen."
Die Gruppe formte einen Kreis, faßte sich an den Händen und bildete eine "menschliche Wiege", in die hinein Martine sanft gesenkt wurde. Aus dem Zentrum dieses Mandalas der Fürsorge und Liebe erhoben sich kreisförmige Wellen, langsam wiegte die Gruppe sie vor und zurück, wobei sie das Halleluja sang. Fünfzehn Minuten lang war die Gruppe in einer einzigen unterstützenden Offenheit vereint. Und als Martine behutsam zurück auf den Boden gesetzt wurde und sie ein paar Minuten dort ausgeruht hatte, öffnete sie die Augen und sagte: "Oh. Herrlich. Und nun möchte ich dasselbe für jeden von euch tun, aber ich komme nicht darauf wie."
Am Ende des Aufenthalts schienen alle hundert Teilnehmer eine Schlange zu bilden, um Martine und Frank zu umarmen. Sie waren das Zentrum der Verkörperung von Gefühlen, von Liebe für die Gruppe geworden. Sie waren zum klaren Spiegel der ursprünglichen Natur jedes Lebewesens geworden. Obwohl die meisten zu diesem Workshop gekommen waren, um "tiefer zu verstehen", war es am Ende die Reinheit von Martines Liebe, die die meisten anzog. Es war die "Weisheit der Liebe", die sie in diesen wenigen Tagen so klar gespürt und miteinander geteilt hatten. In Martine zeigte sich die perfekte Lehre einer "bedingungslosen Liebe". Weil sich ihr Geist nicht so sehr auf Bedingungen bezog, war die Liebe, die sie verströmte, eine Art universelle Liebe, die keine Fesseln und Grenzen kannte. "Ich liebe einfach jeden. Ich kann es nicht verhindern." Ihre Bereitschaft, das Jetzt, so wie es war, zu akzeptieren, war eine der großen Lehren des Workshops für jeden, der teilgenommen hatte. Ungefähr zwei Wochen danach erhielten wir eine Karte von Martine, auf der zu lesen Stand: "Ahhh..."

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