Lieba Naomi66,
ja, bis jetzt konnte man ihn noch guten Gewissens allein den ganzen Tag zu Hause lassen, er kam da schon noch zurecht, ich habe halt alles im Haushalt und natürlich einkaufen und kochen sowieso übernommen, auch wenn ich es schlimm für ihn fand, daß er den ganzen Tag so allein mit sich und dieser Prognose war. Ich leide auch darunter, daß man halt überhaupt nichts anderes machen kann als daheim rumzusitzen, nichtmal mehr ins Kino oder schön Essen sind wir seither gegangen, Geburtstage, Weihnachten waren sehr öde und traurig, ohne grosse Einladungen. Ich fühle mich mit 49 Jahren noch viel zu jung um nur daheim rumzusitzen.
Er bekommt zwar ein wenig Besuch, aber das kann ja nicht das Leben ersetzen, das er vorher hatte, mit Kollegen, Arbeit, Ausgehen, Reisen, auf Veranstaltungen gehen, raus zu gehen in die Natur.
Seit letzter Woche hat es einen deutlichen Sprung gemacht, er hat sich deutlich verschlechtert. Mehr Krampfäquivalente, mehr Schmerzen, schlechter Sprechen, mehr Verwirrtheit, mehr Unruhe, viel schlechteres Gehen. Ich hatte ihn übers WE ins Krankenhaus gebracht, ihn aber vorsorglich schon in einem Hospiz vormerken lassen für die Zeit wenn ich es daheim nicht mehr schaffe. Ich kann die ganze Medizin-Versorgung schon übernehmen, Medikamente verordnen, Infusionen legen, Blut abnehmen, Papierkram erledigen, aber ich bin halt den ganzen Tag bei der Arbeit, und habe da schon sehr viel fehlen müssen. Meine Patienten muss ich auch versorgen, ich arbeite in einer grossen suchtmedizinischen Praxis, die Patienten sind darauf angewiesen, dass wir 7 Tage die Woche von morgens bis spät abends für sie da sind. Ich kann meinen Kollegen viel, aber nicht andauernd alles aufbürden. Und diese Arbeit ist mein ganzes Glück und meine Existenzgrundlage.
Wenn ich jetzt noch zusätzlich die materiellen Sorgen hätte weil mein Mann der Alleinverdiener war hätte ich noch viel viel grössere Sorgen! Und zum Glück haben wir keine kleinen Kinder mehr, mein Sohn aus erster Ehe ist fast 18.
Meine Suchtpatienten erlebe ich nicht als zusätzliche Belastung, sondern als Bereicherung. Sie geben mir Energie zurück in den besten Momenten, wenn ich sehe, wie sie sich stabilisieren, wenn ich Zeugin werden darf, wie sie wieder aus dem Schlamassel in das die Sucht sie gebracht hat aufstehen mit unserer Begleitung. Ich erlebe es als Geschenk, wenn sie mir ihr Vertrauen schenken, und wenn ich von ihnen lernen darf, als Ärztin immer weiter an mir zu arbeiten, um besser zu werden für meine Patienten.
Wenn man im privaten Leben selbst solch schwere Schicksalsschläge verkraften muss heisst das nicht automatisch, daß man als gebrochener, verwundeter Mensch für immer trauernd durchs Leben gehen muss, auch wenn man manchmal in der tiefsten Verzweiflung feststecken kann.
Schon die schwere Krankheit meines Sohnes und der frühe Tod meiner Mutter haben mich zu einem feinfühligeren, mitfühlenderen Menschen gemacht, und das spüren meine Patienten sofort. Ich brauche nicht viele Worte, nichtmal viel Zeit, um ihnen zu signalisieren: ich weiss, wie du dich fühlst, ich habe es ähnlich erlebt, ich glaube daran, dass du das überstehen kannst!
Was ich damit sagen will ist, dass einen selbst diese Erfahrung "reicher", vielleicht stärker (wenn man es übersteht), mitfühlender macht. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß es ein Geschenk ist, für den anderen da sein zu dürfen, und ihn in den Tod begleiten zu dürfen, das ist manchmal nicht leicht, das zu sehen.
Aber die Zeit die ich noch bei meiner Mutter auf der Palliativstation sein durfte bis zu ihrem Tod habe ich sehr schmerzlich, aber auch sehr kostbar und wertvoll in Erinnerung: es gab nichts mehr zu tun, was ihr geschadet hätte, endlich durfte alles so sein wie es war. Sie durfte gehen, ohne noch ständig neue OPs oder Chemotherapie oder Aszitespunktion. Sie hatte einen dicken Morphinperfusor gegen Schmerzen, und einen gegen Unruhe und Übelkeit. Sie war umsorgt von sehr lieben und verständisvollen Schwestern, Pflegern, Ärzten, Physiotherapeuten. Sie hatte noch wache Momente, in denen sie mit meinem Vater, meinem Bruder und mir sprechen konnte. Nachts hat mein Vater bei ihr übernachtet. Morgens kam ich auf Station, auf jedem Tischchen brannte ein Windlicht. Es war Sommer und draussen sangen die Vögel und die Rosen blühten.
Zum ersten Mal durfte ich als Ärztin erleben, daß man nichts mehr tun muss. Ich habe auf Intensivstationen gearbeitet und musste bis dahin immer Leben erhalten um wirklich jeden Preis. Als meine Mutter im Sterben lag habe ich mir frei genommen, ich hätte nicht arbeiten können, und ich saß einfach nur an ihrem Bett, in ihrem Zimmer, und las oder meditierte. Es gab nichts mehr zu tun, ausser da zu sein! Wir konnten nichts mehr klären, nichts mehr bereden, dazu war sie zu schwach, und ich liess all die offenen Konflikte gehen im Angesicht des Todes. Ich konnte ihr verzeihen. Auch ich kann als Mutter nur so gut sein wie es irgend geht, auch ich bin nicht perfekt, und habe meinem Sohn sicher auch oft wehgetan.
Als sie ging breitete sich ein endloser Friede auf ihrem Gesicht aus. Ein wundervoller Duft lag im Zimmer und draussen sang eine Amsel. Ich war dankbar, daß ich diesen Moment mit ihr teilen durfte, mit ihr, die mir mein Leben geschenkt und mich geboren hatte.
Die Trauer kam danach. Ich war den Rest des Sommers unfähig, morgens aufzustehen und sperrte die Sonne mit Rolläden aus, nahm morgens Schlaftabletten um den Tag nicht mirkriegen zu müssen.
Letztlich half mir eine Freundin mit ihrer Lebensfreude, die aber auch gerade ihren Vater verloren hatte und natürlich mein Mann und mein Sohn wieder aufzustehen und zurück ins Leben zu finden.
Jetzt wird mein Mann bald nicht mehr da sein, und ich habe unvorstellbare Angst vor dem Alleinsein. Keiner der auf mich achtet, keiner, der mein Zuhause ist, ich fühle mich wie aus der Zeit aus dem Leben gefallen manchmal, total verloren. Ich habe Angst vor der Nacht, vor der Dunkelheit, und Angst verloren zu gehen. Wenn mir irgendwas passieren würde würde es lange dauern, bis sich jemand fragt wo ich bin.
Das wird sehr hart, und ich weiss ehrlich gesagt noch nicht, wie ich das überstehen werde.Noch ist mein Hund bei mir, aber sie ist schon sehr alt. Und mein Sohn ist 18 und wird bald wegziehen. Ich werde ihn nicht festhalten, er soll seinen Weg machen.
Ja, Ihr Lieben, so ist es. Manchmal hat man vielleicht etwas mehr Kraft, manchmal sieht man einen Hoffnungsschimmer und hat Zuversicht, daß es irgendwie weitergehen wird, und auch schön weitergehen wird, das haben wir doch verdient, wir starke, liebevolle tapfere Frauen, oder?
Und manchmal bricht alles wieder über einem zusammen, die Sorgen, die Verzweiflung, die Einsamkeit überrollen einen und man fragt sich, ob man den Schmerz so aushalten wird, daß es Sinn macht, das Leben weiterzuleben........
Ich denke an Euch alle Leidensgenoss(innen)en da draussen!
Deine/Eure ManishaW
P.S.: mir hat damals das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben von Sogyal Rinpoche geholfen. Für mich die einzig tröstliche Haltung ggü. Tod und Sterben. Ich werde es jetzt wohl wieder von Anfang bis Ende durchlesen, in der Hoffnung auf Trost. Auf der Suche nach der Wahrheit.