Liebe Gaby,
was die Wesensveränderung bei hirnorganischen Erkrankungen (Tumore, Schlaganfälle, Blutungen
u.a.) betrifft, so herrscht (wie oft) keine völlige Einigkeit unter den Fachvertretern. Zum Einen spielt
sicher die Lage des Tumors eine Rolle. Veränderungen der Persönlichkeit des Menschen werden
häufig mit Schädigungen im Frontallappen (vordere Rindengebiete) verknüpft, da dort die Funktionen
der Planung und Steuerung des Verhaltens angesiedelt sind. Aber entsprechende Veränderungen
können durchaus auch bei Schädigungen anderer Gebiete auftreten - z.B. im Bereich der
Schläfenlappen oder tiefer gelegener Strukturen (Thalamus, sog. limbisches System) und ihrer
Verbindungen zum Frontalhirn.
Zum Anderen sind die Nervenzellen des Gehirns sehr druckempfindlich und es kann auch schon durch
die Größe eines Tumors (an anderer Stelle im Gehirn), bzw. die damit verbundene Verdrängung
gesunden Gewebes zu Störungen der Hirnfunktionen kommen.
Weshalb die Wesensänderung häufiger negativ, als positiv auffällt hat seine Ursache wahrscheinlich
in dem Umstand, daß die Rindenbezirke in denen die Impulskontrolle abläuft, vorwiegend hemmende
Reize aussenden.
Man kann es sich vereinfacht etwa so vorstellen: Es gibt ein Zentrum für aktives, offensives auch
aggressives Verhalten, das gewissermaßen ständig aktiv ist. Die Rindenbezirke der bewußten
Verhaltenskontrolle üben ständig eine wohldosierte hemmende Wirkung auf dieses Zentrum aus. So
wird unser Verhalten gezügelt und erscheint normalerweise sozial angemessen.
Wenn durch eine Schädigung dieser steuernden Strukturen die Kontrolle vermindert ist, brechen die
ungehemmten (negativen) Verhaltensimpulse durch.
Leider gibt es kein besonderes Zentrum für liebes oder nettes Verhalten, das ist immer ein bewußter
Vorgang der psychische Anstrengung erfordert.
Neben erhöhter Reizbarkeit, Ungeduld u.ä. werden aber auch häufig Veränderungen im Sinne von
zunehmender Abstumpfung und Passivität, also Antriebsverlust berichtet.
In wieweit ein Betroffener bei einer Hirnerkrankung die Kontrolle über sein Verhalten behält, ist
pauschal schwer einzuschätzen. Auf jeden Fall gibt es kein entweder-oder, also ein gewisses Maß
an Kontrolle bleibt sicher bestehen, aber die Schwelle zum Verlust dieser Kontrolle wird niedriger.
In aller Regel wird er also nicht genau so voll verantwortlich für seine negativen Impulse sein, wie ein
hirngesunder Mensch.
Die seelischen Konflikte des Betroffenen, der ja eine lebensbedrohende Veränderung erlebt, werden
selbstverständlich ebenfalls eine Wirkung auf das Verhalten haben. Aber diese sind widerum so
individuell verschieden, wie wir Menschen verschieden sind.
Wenn derjenige bereit und in der Lage ist, einen auf die Betreuung onkologischer Patienten
spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen - kann er mit entsprechender Hilfe zur (besseren)
Bewältigung dieser Konflikte rechnen. An größeren Krankenhäusern gibt es manchmal solche
Kollegen und die Ärzte onkologischer Praxen arbeiten gelegentlich mit solchen Therapeuten
zusammen, bzw. verfügen über entsprechende Kontaktadressen.
Vielleicht sind ihre Fragen damit teilweise beantowrtet.
Mit freundlichen Grüßen
V.Ramm (Dipl.-Psych./Neuropsychologe)